Viele von uns, die wir Missbrauch und Gewalt in unserer Kindheit und in unserer Geburtsfamilie erfahren haben neigen dazu, alles, was mit unserer Kindheit und Familie zu tun hat, rigoros abzulehnen.
Das ist normal und Teil des Prozesses, sich von dem und denen zu distanzieren, das einen zerstört und in vielen Fällen an den Rand der seelischen und körperlichen Möglichkeiten gebracht hat.
Wir denken vielleicht an den Erdbeerkuchen am Sonntagnachmittag, der Kaffeetisch perfekt gedeckt mit bunten Servietten, Blumen und Omas Porzellan… und uns wird schlecht, wir werden aggressiv und rebellieren ob der Scheinheiligkeit dieser Momente.
Denn viele von uns haben am Abend zuvor die schlimmsten Momente ihres Lebens erfahren: Missbrauch durch den Bruder, Vergewaltigung durch den Vater, Alleingelassensein von der Mutter… die Kinderseele fühlte sich benutzt, beschmutzt, verraten, verkauft, in den Dreck getreten und dort liegen gelassen.
Selbst wenn der Dreck unter der Dusche mit Rosenschampoo abgewaschen wurde, blieb das Gefühl. Es blieb am Frühstückstisch mit den duftenden Brötchen, es blieb den ganzen Tag und wurde von allen Beteiligten verdrängt… wir waren alleine mit der seelischen Last, die uns in die Knie zwang, erstickte und nicht selten verzweifeln ließ. Einige zerbrachen sogar unter ihr…
Und andere verdrängten sie irgendwann, einfach deshalb, weil sie zu schwer war, alleine getragen und ausgehalten zu werden.
Auf der einen Seite war der schöne Kaffeetisch ein Halt, ein Stück Normalität, ein Stück Harmonie und Positives… und auf der anderen Seite war er der blanke Hohn, eine schallende Ohrfeige in unser Gesicht, ein dünnes Pflaster auf einer tiefen, weitaufgerissenen Seelenwunde… und auch eine Schicht feinster Puderzucker auf einem Haufen "Scheiße".
Wir begannen, diese „schöne heile Welt“ abzulehnen, weil das, was sich darunter verbargt, von allen Beteiligten abgelehnt wurde. Wir rebellierten, indem wir ihnen die „schöne heile Welt“ verdarben weil unsere schöne heile Innenwelt zuvor von ihnen zerstört worden war… Wir wollten es anders machen, wir wollten gesehen werden, wir wollten eine wahre schöne Welt, ohne Missbrauch, ohne Verdrängung, ohne Scheinheiligkeit!
Und so gingen die Jahre dahin… Wir begannen, alles das auszusprechen, was uns verletzte und bedrückte, wir begannen, es aufzuschreiben, uns mitzuteilen… diese verletzenden Gefühle aus uns heraus zu bekommen, die verletzten Gefühle zu heilen und zu transformieren.
Wir begannen den Weg der Heilung…
Und irgendwann auf diesem Weg begegnete uns der Wunsch nach Harmonie, nach Zuhause, nach Geborgenheit, nach Schönheit, nach Frieden… Nach echter Harmonie, echtem Zuhause, nach echter Geborgenheit OHNE verdrängen zu müssen, nach wahrem Frieden ohne einen Preis dafür zahlen zu müssen…
Doch wie etwas leben, was einem oft nur verlogen und einseitig vorgelebt wurde? Wie sich etwas Positivem wie einem Erdbeerkuchen öffnen, der so negativ belastet ist? Wie sich wieder öffnen, ohne sich selbst als Verräter zu empfinden?
Menschen, die Betroffene sind von sexuellem Missbrauch in der Familie kennen solche Konfliktsituationen nur zu gut… viele andere, die meisten anderen, schütteln ob solcher Überlegungen und Gefühle oft nur erstaunt den Kopf. Und das führt bei uns Betroffenen erst recht zu dem Gefühl von Anders-sein, Seltsam-sein…
Denn das sind wir bedingt durch unsere Erfahrung und gleichzeitig wiederum nicht, einfach deshalb, weil wir so viele sind…
Jedes 3. Mädchen und jeder 5. Junge erleben sexuellen Missbrauch in Deutschland.
So viel zum Thema Alleinsein…
Neulich habe ich seit Jahren, nein, seit Jahrzehnten, das erste Mal wieder Erdbeermarmelade gekocht. Schon seit einiger Zeit hatte ich mich darauf gefreut. Auf dieses Gefühl von Zuhause, von Freude, diesem Stückchen „heile Welt“. Mein Inneres sehnt sich danach. Mein inneres Kind lechzt nach diesem Gefühl.
Zuhause sein… Sicher sein. Geborgen sein.
Nach nunmehr zwanzig Jahren der intensivsten Arbeit an mir selbst gibt es immer mehr Momente dieses ehrlichen und authentischen Zuhausegefühls. Die Angst, es könnte die Realität überdecken ist gewichen… Für mich ist das Luxus. Und ein lang ersehnter Traum erfüllt sich in kleinen Schrittchen. Das Innere öffnet sich. Wie viele Jahre habe ich für solche Momente gekämpft… wie viel Dunkelheit in mir ausgeleuchtet, innere Leichen beseitigt, Grenzen ziehen gelernt, Selbstliebe wiederentdeckt…
Solche Momente geben mir viel Kraft. Sie machen Mut. Sie geben einen Vorgeschmack auf das, was sein kann, was immer mehr ist!
Ein zartes Seidentuch, das die große Narbe umspielt und sanft streichelt… Ein zartes Tuch, das den gestärkten und gestählten Seelen-Muskel umgibt, den ich über Jahre hinweg aufbauen konnte. Ein Hauch Hoffnung und die Aussicht, irgendwann ganz bei mir angekommen zu sein. Ganzheit.
Ohne Ablehnung – besonders ohne Ablehnung des Schönen.
Das Bad wird ausgeschüttet – das Kind bleibt. Der Dreck darf gehen, das Schöne aber bleiben.
Wir sind eingeladen, dürfen, ja, wir müssen sogar das Schöne genießen. Es in Empfang nehmen. Es spüren. Essen. Baden. Atmen. Wir „müssen“, denn es gibt uns die Kraft, uns mit den Schatten zu konfrontieren. Es gibt uns die Stärke, durch die Transformation zu gehen. Es gibt uns die Essenz unserer selbst zurück, die die Liebe zum Leben ist.
Haben wir Mut zum Schönen. Mut zu unseren tiefsten Sehnsüchten und Wünschen.
Sagen wir ja zu dem, was uns stärkt und aufbaut – egal, in welcher Form es daher kommen mag!
Und sei es in Form eines süßen Erdbeerkuchen, der früher den bitteren Geschmack des Verdrängens und Missbrauchs trug, heute aber den süßen Geschmack des Lebens für uns sein oder zumindest werden kann!
Es ist UNSER Leben.
Sagen wir ja dazu…
Jetzt erst recht.
Für uns selbst.
Wir haben es uns mehr als verdient.
Wir sind es uns vielleicht sogar schuldig...
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