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Achtung Trigger - mal von der anderen Seite beleuchtet

Aktualisiert: 15. Aug.

Wenn die Angst vor Triggern zum Gefängnis und zum Schutz der TäterInnen wird

Der Link zum Video: https://youtu.be/jGwMcEtYFpU Durch die Nutzung der hier aufgeführten Links, erklären Sie sich mit den auf unserer Homepage beschriebenen Datenschutzbestimmungen, sowie den Nutzungsbedingungen von Drittanbietern einverstanden.


An dieser Stelle möchte ich einige Erfahrungen zum Thema Trigger für all die betroffenen Menschen, die insbesondere aufgrund der eigenen Bedrohungslage und bestehender Täterkontakte nicht mehr verdrängen können, weitergeben.


Ganz klar ist festzuhalten, dass es natürlich auf die innere Stabilität eines jeden Betroffenen ankommt und die Sorge vor Retraumatisierung berechtigt ist, wenn diese nicht gegeben ist und der hilfesuchende Mensch den Weg der Konfrontation nicht gehen kann und möchte. Diese Warnungen und Übungen haben eine sehr wichtige und entscheidenden Rolle innerhalb der Therapie und Aufarbeitung. Ebenso Medikamente, die in vielen Fällen eine wichtige und lebensrettende Rolle spielen können, um die innerseelische Struktur vorerst oder auch dauerhaft zu stabilisieren und ein Leben mit dem Trauma so gut es geht möglich zu machen. 

Diese Tatsache soll jedoch nicht das Thema sein. Ich möchte einen Aspekt ansprechen, der viel mehr die Betroffenen unter uns betrifft, die an einem Punkt angekommen sind, an dem sie nicht mehr verdrängen können oder nicht mehr wollen. 

Hierfür gibt es unterschiedliche Gründe. Es kann die Aufarbeitung als solches sein oder auch ein gesundheitlich motivierter Grund. Diesen Fällen steht oft allem voran die Angst, da eine akute, bereits lange andauernde Bedrohungs- und Übergriffslage vorliegt. 


Aufarbeitung und das Schweigen brechen ist für zum Schweigen Verdammte ein starkes, innerliches Bedürfnis. Es geht darum, das Unaussprechbare aussprechbar zu machen - vor allem dann, wenn sie nach langer Zeit endlich den Mut zum Reden und zur Öffnung gefunden haben. Sind sie an dem Punkt reden zu wollen, aber der Mut zur Klarheit fehlt noch, bieten passende Selbsthilfegruppen und ähnliches einen sehr guten Rahmen über andere Betroffene zu sehen und zu hören, dass es möglich ist gegen die von den TäterInnen auferlegten Verbote und Konditionierungen anzukommen und sich nicht nur befreit zu fühlen, sondern sogar stark und mächtig!

Die erzwungene Täterloyalität und der von ihnen angelegte Maulkorb, der letztendlich einzig und allein den TäterInnen dient und Betroffene immer tiefer in die Opferrolle, den Rückzug und entsprechend gravierende psychische, körperliche und geistige Schädigungen treibt, ruft nicht selten zusätzlich entsprechende Trittbrettfahrer auf den Plan, gerade so als würde der betroffene Mensch sie selbst auch noch anziehen. 


Familiäre sexualisierte Gewalt wird oft erst spät im Erwachsenenalter aussprechbar oder auch spürbar, da die Verdrängungsmechanismen durch die Verbote und der jahre- und jahrzehntelangen Illusion, in der man leben musste, vor allem den TäterInnen und irgendwann schließlich auch einem selbst dienten. Die Illusion wurde zur „Normalität“ und auf paradoxe Weise auch zur eigenen Schutzrüstung.

In der Vereinsarbeit begegnen mir genau diese Menschen, die zumeist durch nicht mehr zu verdrängende Vergewaltigungen und Übergriffe zu uns kommen und sich der oft lebenslange rote Faden der erlebten sexualisierten Gewalt zeigt. Menschen, die über ihr Entwicklungstrauma ein Bewusstsein haben, aber die Gefühle nicht zulassen können. Dadurch können sie sich dem immer lebensbedrohlicheren Fortschreiten der psychosomatisch bedingten, sich aber nun manifestierten körperlichen und psychischen Erkrankung nicht mehr entziehen. Es sei denn sie stellen sich der Ursache und konfrontieren sich. An dieser Stelle zeigt sich zumeist eine lange Odyssee auf der Suche nach Hilfe, die auf unterschiedlichste Weise auch stattgefunden hat, jedoch konnte die Ursache nicht wirklich oder ausreichend tief thematisiert werden. Das erklärt, warum die bisherige Hilfe nicht zum Erfolg und der passenden Therapie führen konnte.


Ebenso sind es auch die Menschen, die im Vergleich zur Bewusstwerdung lieber weiterhin in der Verdrängung leben möchten, jedoch durch ihr Leben konfrontiert werden, weil es immer mehr unüberbrückbare und damit nicht mehr zu verdrängende Hindernisse wie zum Beispiel existentielle Schwierigkeiten und Bedrohungen beinhaltet. Sie brauchen Ventile und Verständnis, um sich und ihr Leben zu verändern.

Es sind also Menschen, deren Schutzschild bröckelt oder sogar droht gänzlich zu zerbrechen, weil durch die nicht mehr zu kompensierende Opferrolle der nächste Übergriff nur noch eine Frage der Zeit ist und unter Umständen der letzte sein kann, bevor die Seele gänzlich kollabiert, die Schäden irreversibel und entsprechend verheerend sind. 


So ein Mensch war ich ebenso wie meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die sich aus dem Teufelskreis - natürlich auch mit der zusätzlichen nötigen Portion Glück - befreien konnten und ehrenamtlich ihre Erfahrungen an die, denen es ähnlich geht, heute weitergeben.

Ich stand vor der Wahl innerlich zu kapitulieren und mich meinem inneren, tätererzeugten Irrsinn hinzugeben und damit in der Konsequenz auch in den Fängen der TäterInnen und aller Trittbrettfahrer bis an mein Lebensende gefangen zu bleiben oder durch die Hoffnung einer Selbstbetroffenen, die für sich einen Umgang mit den gewaltvoll konditionierten Mechanismen und damit täterloyalen Verhaltensweisen gefunden hatte, den Mut zu finden noch ein einziges Mal innerlich aufzustehen und mich dem aufbrechenden Trauma, welches dreißig Jahre lang in mir gor, zu stellen. 

Denn mir wurde durch das sich nun vehement in mein Bewusstsein drängende Trauma nach dem Tod meines Vaters klar, dass diese fehlenden Informationen über die fatale Einwirkung auf mein gesamtes Leben, meine Psyche und alles, was mich ausmachte, der Grund dafür waren, warum die Verdrängung in mir derart stark ausgeprägt war. Auch begriff ich mehr, warum auch die Vergewaltigungen und die sexuelle Ausbeutung bis in mein Erwachsenenalter weiterhin möglich waren und ich nichts dagegen tun konnte, solange ich nicht wusste, wie sexualisierte Gewalt durch den eigenen Vater und die Mutter wirklich funktioniert und was sie für tiefgreifende, manifestierte psychische Auswirkungen in mir hat.

Ebenso hatte ich endlich die Erklärung des damit einhergehenden Voranschreitens meiner psychischen, geistigen und körperlichen Symptome, die sich nicht länger verbergen ließen. Ich verstand, obwohl ich noch kaum etwas über das echte und ganze Ausmaß meines Traumas wusste, mein Leben völlig neu. Es setzte sich wie ein Puzzle korrekt zusammen und dies gab mir die nötige Dynamik aufzustehen, hart zu arbeiten und zu lernen, dass mich nichts mehr schockieren darf und ich aus meinem fremdbestimmten „Dornröschenschlaf“ aufwachen musste, wenn ich nie wieder Opfer werden wollte. Denn gerade mit dem Schock und der Angst davor hatte mich jeder Täter und jede Täterin und am Ende jeder Mensch psychisch unter Kontrolle, der es schaffen konnte, mir auf irgendeine Weise Angst zu machen und in die frühkindlich angelegten Pfade einzusteigen.

Damit wurde Angst eine lange Zeit zu meinem größten Feind, da ich aus meiner bisherigen Erfahrungswelt nur einen Umgang damit kannte: Aufgabe, Hingabe, Ertragen und Geschehenlassen, bis es vorbei ist.

Hilflosigkeit und Machtlosigkeit bestimmten mein Leben und nur weil ich dreißig Jahre die Ursache verdrängte, da sie zu schmerzhaft war und gleichermaßen verboten durch die TäterInnen, hieß dies nicht, dass ich es dadurch schaffte, diese Gefühle und Verhaltensweisen aus meinem Erwachsenenalltag zu verbannen. All die Gefühle, die durch das Aufbrechen meiner Seele zu Tage traten, da meine Kraft zur Verdrängung erschöpft war, waren Gefühle, die immer schon da waren, die ich eben all die Jahre nur nicht in mein Bewusstsein ließ – was für eine Kraftanstrengung und geradezu Übermenschlichkeit im Nachhinein betrachtet. Und nun war schließlich die Erklärung da, warum mir in meinem Leben die Kraft für so vieles andere fehlte, was ich eigentlich tun wollte.

Durch mein Erleben und gerade auch durch mein Verhalten mehr als gut sichtbar konnte und durfte ich nicht sprechen. Daher war es für mich lebensrettend, dass es Menschen, Betroffene, gab, die das für mich ausgesprochen haben, was ich mich selbst vor Angst oft noch nicht mal zu denken getraut habe, aber das in der Tiefe dreißig Jahre lang nach Aufmerksamkeit schrie. Erst durch das Bewusstsein konnte ich die Gefahren erst sehen und mich dadurch entsprechend schützen lernen, aber es war auch so unendlich erleichternd endlich das Gefühl zu haben gesehen und verstanden zu werden. 

Dieses Gefühl war so tief in mir vergraben, dass ich bis zu diesem Moment, auch wenn das Gesagte weh tat, vergessen hatte, wie bedeutend dies für mich war und was für ein Seelenbalsam es für mich darstellte. All das gab mir mehr und mehr Hoffnung und Zuversicht und führte mich zu meiner eigentlichen, immer dagewesenen Kraft zurück. Bei allem Schmerz durch direkte Worte - die nötig waren, da in meinem Fall Verdrängung lebensgefährlich war - überwog tief in meinem Inneren die Erleichterung, die mir gleichzeitig mehr und mehr Lebensqualität, Vertrauen in das Leben, in mich selbst und in die Menschheit zurückgab. Der Glaube in mich und mein Leben war zerrüttet und so weit weg, dass ich nach fast dreißig Jahren Martyrium suizidal und die Verdrängung so weit fortgeschritten war, dass sie all diese Gefühle in die tiefsten Tiefen meines Unterbewusstseins verbannt hatte und ich so den Tod, im Vergleich zum Leben, lange Zeit meines Lebens als angenehmer empfand. War dies doch die Spitze in meinem Bewusstsein, in der sich der gelebte Tod der massiven sexualisierten Gewalt aus dem Unterbewusstsein schließlich zeigte, da eine gänzliche Verdrängung bei solch einer Intensität und Dauer eben nicht möglich ist und sich abstrakt äußert.

Der Schmerz bei all den Wahrheiten, die ich in mir selbst fand, und der schrittweisen Aufdeckung der Realität, vor der ich mich selbst endlich nicht mehr verstecken musste und die damit auch nicht mehr länger das Versteck der TäterInnen und ihrer Trittbrettfahrer war, war am Ende der Schmerz der TäterInnen, den sie an mir abgelebt und verbrochen haben. Ein Schmerz, der auch zu meinem wurde. Es war das Ablegen der zwangsweise und mit der Zeit mit mir verwachsenen Schutzrüstung, die mich den gelebten Irrsinn hat überleben lassen. Eine Rüstung, die mehr den TäterInnen, ihren HelferInnen und Sympathisanten als mir selbst diente und zur Befreiung meiner Selbst abgelegt werden musste, wenn ich den Weg zu mir selbst zurückfinden wollte. 

Es war wichtig für mich, die Dinge mit der Normalität, wie ich sie mein Leben lang als Alltag erfahren musste, beim Namen nennen zu können, die Worte mit Selbstverständnis und Gelassenheit sowie mit dem Gefühl der Absurdität zu hören und auszusprechen, damit sie mich nicht mehr schockieren oder ängstigen können. Auf diese Weise gehörten sie zu mir und meinem Leben, so wie meine Vergangenheit nun einmal war und sich nicht ändern ließ. So konnten sie keinem anderen Menschen mehr Macht über mich geben und ich konnte sehen, was ich im Stande war zu überleben. Dementsprechend war es wichtig mir die pervertierten Gefühlsintrojektionen und Mechanismen bewusst zu machen, um sie zu verstehen, zu verändern und vor allem mir selbst verzeihen zu können. Durch das Ziehen der eigenen Grenzen wurde endlich die Selbstbestimmung möglich, die ich mir so lange gewünscht hatte und an die ich eigentlich schon nicht mehr geglaubt hatte sie jemals erlangen zu können.


Am wichtigsten war es also, den Verdrängungsmechanismus und die dissoziativen Zustände, die für mich einem inneren Abschalten gleichkamen, in den Griff zu bekommen und niemandem mehr durch Aggression, Angst, Schock oder Sexualität mehr die Macht über meine Psyche und mein „inneres Kind“, dem traumatisierten Anteil also, zu geben. Ich musste mich und mein Inneres, wie es durch die andauernde Gewalt und Traumatisierung funktioniert, verstehen und beherrschen lernen. Natürlich war das, was in diesem Prozess dann hochkam, alles andere als angenehm. Die Sprache und Gefühlswelt der Gewalt oder des Inzestes, wie in meinem Fall, ist hässlich, brutal und grausam. Dieser pervertierten Fratze schonungslos ins Gesicht zu schauen, nahm ich mir zur Aufgabe, denn die TäterInnen waren mir gegenüber ebenso schonungslos, schließlich haben sie sie erschaffen. Sie würden mir mit der bewussten Absicht, mich erneut zu vergewaltigen und mich zu brechen, genauso begegnen. Es gab also nur einen Weg für mich, wollte ich, weder physisch noch psychisch, nie wieder Opfer werden.

Wissen war und ist also Macht.


Daher halte ich es für Betroffene, die nicht mehr verdrängen können, für fatal ihnen nicht den Raum und den Boden dafür zu ebnen oder zu geben, diese Grausamkeiten mitzuteilen und sich ihnen zu stellen, wenn sie das Bedürfnis haben.  Zu oft habe ich in Gruppen gehört, dass Betroffene es immer wieder erleben, dass sie „zu viel“ sind und sie eher zur weiteren Verdrängung animiert werden. Es ist zu schrecklich und zu belastend. Selbstverständlich ist dies sicher in einigen Fällen absolut korrekt und lebenswichtig. Genauso gibt es aber auch die Menschen, bei denen es gerade umgekehrt ist und an diese Tatsache möchte ich gerne erinnern und aufmerksam machen. Auch darf die Brutalität des Themas, die vielen Nicht-Betroffenen Angst macht und Unsicherheit im Umgang erzeugt, nicht zu Lasten der Opfer werden, die ihr Leben lang mit den Bildern, Gefühlen und Folgen leben müssen und die nun durch das fehlende Ventil des Aussprechens auch noch Gefahr laufen erneut Opfer zu werden. TäterInnen leben am Ende auch von der Unsicherheit der Helfenden und durch das Verschleiern der Erkrankungsursache, wenn die Betroffenen auf ihre Gewaltfolgen, die sich unter anderem auch in psychischen, geistigen und körperlichen Erkrankungsbildern zeigen, reduziert oder als „austherapiert“ behandelt werden.


Für viele erscheint die Vereinsarbeit zu konfrontativ und fest steht, das ist sie für viele auch. Jedoch sind nicht wir schonungslos, sondern das Thema und die oft nicht nachlassende Täterbedrohung und -verfolgung ist es.  Möchten wir wirkliche und verantwortungsbewusste Aufklärung und Unterstützung betreiben, braucht es sattelfeste HelferInnen, die sich durch die perfiden Täterstrategien nicht abschrecken lassen und um den Betroffenen konsequent und schützend zur Seite stehen zu können.

So individuell wie die Menschen sind, so individuell sind ihre Ansprüche und Bedürfnisse, besonders in einem derart komplexen Thema wie Entwicklungstraumatisierung durch familiäre sexualisierte Gewalt. 

In dem Bereich begegnen uns ebenso vielfältige und hochkomplexe Problemstellungen. Daher stellt sich die Frage: Wie will man ein Problem verstehen, wenn die Ursache und die darauf aufbauenden Auswirkungen verdeckt bleiben? Wie soll ein Mensch verstehen und nachhaltige Prävention betreiben, wenn er nicht sieht, wie ernst die Erkrankung an Krebs, Covid19, HIV oder anderem ist und er somit immer wieder erneut die Gefahr verdrängt? Wie wollen wir Kinder vor sexualisierter Gewalt in der Familie schützen, wenn wir uns gegen die Bilder und dem Ausdruck des Leids auf allen Ebenen wehren? Wie wollen wir ein komplexes Thema mit solch tiefen, oft unumkehrbaren und facettenreichen Spätfolgen wie sexualisierte Gewalt durch die Familie bzw. das Nahfeld verstehen, wenn wir eine nur eindimensionale und verhärtete Herangehensweise und stereotype Struktur zulassen? Und wer sollte diese Informationen besser vermitteln können, wenn nicht die heute erwachsenen Betroffenen, die einen Weg zum Sprechen über ihr mehr als schweres Schicksal gefunden haben? Tragen nicht gerade sie nicht nur die Verantwortung mitzuwirken, sondern auch die erforderlichen Kenntnisse, das Mitgefühl und die entsprechende Sensibilität in sich, um andere, die noch in dem Teufelskreis feststecken, zu erreichen?

In der Vereinsarbeit möchten und können wir mit unserer Arbeit nur für diejenigen unter uns Betroffenen eine Hilfe und Unterstützung sein, die ähnlich empfinden und ähnliche Erfahrungen gemacht haben und natürlich bekommen wir mit dem Lauterwerden entsprechenden Gegenwind von Kritikern und selbstverständlich von den TäterInnen - eine unangenehme und doch so bekannte Nebenwirkung, der wir uns, gerade als Selbstbetroffene, leidenschaftlich stellen. 


Durch die Begegnungsstätte in Leese zeigen wir beispielsweise anhand von Puppen die Facetten und pervertierten Auswüchse von sexualisierter Gewalt und dies machen gerade auch die Größenverhältnisse zwischen Kind und Erwachsenen deutlich. Ich habe von einer Selbsthilfegruppenstelle, die den Film über die von uns als Selbstbetroffene aufgebaute Ausstellung auf YouTube gesehen hat, massivste Kritik und Inkompetenz vorgeworfen bekommen und dass es in ihren Selbsthilfegruppen nicht in Frage kommt, in dieser Deutlichkeit über ein derart schweres Thema mit Retraumatisierungsgefahr zu sprechen und sie mit uns und unserer Arbeit nichts zu tun haben wollen. Natürlich verstehen meine KollegInnen und ich einerseits die Empörung und auch die Sorge um die Gesundheit eines jeden, um die wir selbst am besten wissen. Wir erleben es jedoch, gerade bei Betroffenen, die selbst noch nicht genug an sich glauben, immer wieder, wie befreiend und erleichternd eine Sprache ist, die das Erlebte nicht abstrahiert, sondern klar macht. Aus unserer Sicht hat dies auch etwas mit Respekt und Verantwortung dem Betroffenen gegenüber zu tun. 


Nicht wir sind drastisch und schonungslos, sondern das Thema selbst und die Betroffenen, die dies jahre- und jahrzehntelang, wohlgemerkt durch die eigene Familie, überleben mussten, tragen weitaus mehr an Grauen und Tod in sich, als jedes Video, eine Ausstellung mit Schaufensterpuppen oder ein Text deutlich machen können.


Und noch viel wichtiger: unsere Arbeit ist einzig für die Betroffenen, die ähnlich wie wir an einem Punkt stehen, an dem sie nicht mehr verdrängen wollen und sich sogar in Bedrohung und Gefahr sehen, wenn sie die Verdrängung und den „Abschaltmechanismus“ nicht in den Griff bekommen. Hierin liegt die Gefahr der Retraumatisierung, weil die TäterInnen sich dann weiter schadlos an ihnen halten können und das auch noch mit immer steigender Sicherheit eine Strafverfolgung fürchten zu müssen. Denn jede weitere Gewalttat wird die Symptomatik der Dissoziation, der inneren Aufgabe sowie der bereits bestehenden Folgeerkrankungen drastisch verschlimmern und auch die Glaubwürdigkeit des Opfers reduzieren. Denn das Opfer kann diese Taten dann oft aus Mangel an Beweisen nicht zur Anzeige bringen oder verdrängt sie erneut, wenn es dann überhaupt noch die Kraft dafür hat und nicht schon der psychische Zusammenbruch eingetreten ist. Ein mehr als tragischer Zustand, der den TäterInnen nachhaltig in die Hände spielt, ein Menschenleben kostet und ihnen im schlimmsten Fall ein Opfer auf Lebenszeit garantiert.

 

Die gestauten und verbotenen Aggressionen, das ohrenbetäubende Schweigen im Inneren und Äußeren führen zusammen mit den lebensbedrohlichen, oft weiterfortgeführten Übergriffen zu schwerwiegenden psychischen, geistigen und körperlichen Erkrankungen. Der Ausdruck und der Austausch unter gleichgesinnten Betroffenen unter Berücksichtigung der Stabilität, der eigenen Ressourcen und individueller Bedürfnisse, tragen elementar zur Aufarbeitung, der Teilhabe am Leben, dem gegenseitigem Respekt und damit der Selbstbestimmung und persönlichen Freiheit bei. Dieses Ventil bedeutet ebenso eine Linderung bis möglicherweise Heilung der psychosomatisch bedingten Symptome. All dies hat eine nachhaltige Wirkung, wenn der Täterkontakt abgebrochen werden kann und äußerliche und innere Sicherheit gegeben ist.

Der täterbedingte Maulkorb, der auf so facettenreiche Weise wirkt, darf nicht auf Dauer durch Dritte aufrechterhalten werden, will man Betroffenen zur Selbstermächtigung, Freiheit und Selbstbestimmung verhelfen.

So birgt Verdrängung auf Dauer die Gefahr, zum Schutz der TäterInnen zu werden. Als HelferIn ist es wichtig zu bedenken, dass ein derart tief und oft über einen so langen Zeitraum sexuell gequälter Mensch möglicherweise auch im Erwachsenalter Opfer von Übergriffen ist und die TäterInnen nach der Kindheit nicht zwangsläufig aufhören. TäterInnen sind getrieben von ihren Perversionen und natürlich durch die Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen. Ihr Opfer in Angst und Schweigen durch weitere Drohungen und Traumatisierung zu halten, stellt ihre Lebensversicherung dar.

Verdrängung und Dissoziation ist ein zweischneidiges Schwert, da sie zum Zeitpunkt des Erlebens und der Instabilität notwendig ist, für die Aufarbeitung und zum Aufbau von Schutz und Sicherheit kann sie jedoch nicht nur hinderlich, sondern lebensgefährlich werden.

Mit Hinblick auf die tätergesteuerte und perfektionierte Schauspielkunst eines jeden Opfers, der erzwungenen Identifikation, täterloyalen Verhaltensmustern und den Todesängsten kann ein „falscher“ Schutz und in „Watte packen“ der Opfer, insbesondere aus persönlichen Ressentiments, mangelndem Fachwissen und eigener Angst lebensgefährlich und fahrlässig für den hilfesuchenden Menschen sein. Denn er selbst hat, durch die Verdrängungsmechanismen, die Schuld- und Schamgefühle und die Todesängste, oft am wenigsten Zugang zu den täterkonditionierten Mechanismen.

Die Hilfe liegt in der Vermittlung von Sicherheit im Thema sowie dem Vorleben eines realistischen Umgangs mit sogenannten „Triggern“, vor denen sich der betroffene Mensch im Alltag ohnehin nicht ausreichend schützen kann. Im Gegenteil, er braucht einen selbstbewussten und stärkenden Umgang, um den Auslösern seiner traumatischen Gefühlswelt und im Zweifel auch den ihn noch bedrohenden TäterInnen selbstsicher und handlungsfähig begegnen zu können. 


Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass die stetige Erinnerung an meinen Überlebenswillen durch meine Helfer mich motiviert hat. Selbst wenn es anfangs schwer war sich dieses Gefühl bewusst zu machen, habe ich doch irgendwann erkennen müssen, zu welch übermenschlichen Fähigkeiten ein traumatisiertes Kind fähig sein muss, um die inzestuöse Gewalt des eigenen Vaters, der Mutter und der Großeltern überleben zu können.

Die Dankbarkeit und Erleichterung, die ich damals gespürt habe, als ich meine Worte und Sprache zu dem Erlebten nicht mehr verstecken musste, werde ich nie vergessen. Dieses Gefühl haben mir so viele andere Betroffene, denen ich begegnen durfte, ebenso widergespiegelt. So wie auch das Gefühl, wenn „Triggerwarnungen“ einem Opfer durchaus auch andere Gefühle geben können als die, wofür sie gedacht sind.

Für mich, wie für viele andere, denen ähnliches passiert ist, gehörte dieser „Schrecken“ bereits als Kind schon zum Alltag. Ein Alltag, den niemand sehen wollte. Wie viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene erleben jetzt gerade in diesem Moment diesen Alltag, diese Normalität? Warum schüren wir die Angst mit „Achtung Gefahr“, verstecken uns hinter dem Deckmäntelchen der Retraumatisierungsgefahr, wenn die Opfer, um die es geht, eben diesen Filter und Schutz nicht haben? Sollten wir nicht mutiger sein, um TäterInnen zu zeigen: „Ja, familiäre sexualisierte Gewalt ist Teil unseres Lebens, unseres Alltags und vielleicht auch in der eigenen Familie! – Wir haben keine Angst und lassen die eigene Angst nicht zum Anlass werden, Opfern unzureichend zu helfen, sondern wir solidarisieren uns mit ihnen und tragen ihre Last mit, indem wir uns der Realität, wie sie sie ihr Leben lang in sich tragen, ebenso schonungslos stellen, wie sie es bereits als Kind tagtäglich mussten!“ Glauben Sie nicht auch, dass dann die Opfer aus dieser Gruppendynamik und Solidarität heraus schneller den Glauben an sich, ihre Stärke und die Welt wiederfinden? Denken Sie nicht, auf diese Weise könnten wir gemeinsam TäterInnen den Raum, in dem sie sich bisher so erfolgreich verstecken, Stück für Stück verkleinern und es ihnen ungemütlich machen? Zugegeben es ist idealistisch gedacht, aber was steht dagegen: ein Leben eines Babys, ein Leben eines Kindes, ein Leben eines Menschen, ein Leben es Menschen, den Sie vielleicht kennen und der jeden Tag sein Martyrium aus Todesangst geschickt vor Ihnen verbirgt und Ihnen mit einer Maske begegnet.

 

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