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AutorenbildEl Faro Berlin

Erwachsen werden - von der Bewusstwerdung von Stärke + der Verantwortung dem inneren Kind gegenüber

Aktualisiert: 15. Aug.


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Betroffene von sexualisierter Gewalt durch die eigene Familie haben durch ihr Erleben zu solch frühkindlicher Zeit nicht lernen können, wie sie mit unterschiedlichsten Alltagssituationen adäquat umgehen können. Vieles wurde nicht erlernt oder erfahren, so dass es fast unmöglich scheint, einen anderen als den bekannten Umgang mit sich selbst und seinen Mitmenschen leben zu lernen. Allein einen sicheren, liebevollen Ort für sich zu haben und ihn als solchen anzuerkennen, wenn er vorhanden ist, ist durchzogen von Unsicherheit und Verlustangst. Ein Einlassen und damit ein freies Leben mit der Fähigkeit des Loslassens und des Genießens muss erst mühevoll aufgebaut werden.

 

Der tief verwurzelte Überlebensmodus als Normalität für ein Kind

Je nach Beginn der Gewalt und der Entwicklungsphase des Kindes und je nach Dauer und Intensität der sexualisierten Übergriffe können sich die natürlichen Schutz-, Abwehr- und Selbstbehauptungsmechanismen und andere Fähigkeiten gar nicht erst entwickeln. Sie sind durch die massive, lebensbedrohliche Prägung der Eltern entsprechend auf Überlebensmodus entwickelt.

Ein Kind, welches frühkindlich derartige Gräueltaten wie sexualisierte Gewalt durch die eigenen Eltern erleben muss, ist in seinem Urvertrauen zerstört und wächst weitestgehend isoliert von sich selbst auf. Es ist gezwungen, sich für sich und seine Umwelt zu verschließen, will es überleben. 

Über die Jahre und Jahrzehnte, die der Missbrauch aller Wahrscheinlichkeit anhält, wenn sich die Rahmenbedingungen nicht einschneidend verändern, nehmen diese im Unterbewusstsein tief verwurzelten und auf Dauer mehr und mehr zerstörerischen Mechanismen immer drastischerer Formen an. Dies geschieht auf allen Ebenen, die unser Menschsein ausmacht und im Hinblick auf Gewalt innerhalb der Entwicklungsphasen eines Kindes werden die Auswirkungen selbstverständlich umso einschneidender im Heranwachsen und später als Erwachsener sein. Die Folgen sind umso dramatischer und schwerer umkehrbar, je früher das Kind die Gewalt und Perversion als „normal“ für diese, seine Welt empfindet und eine Identifikation stattfindet.

 

Das Kind als KriegerIn

Dieser kleine, höchst sensible heranwachsende Mensch ist in dieser Zeit bereits ein Überlebenskämpfer und gefordert, allen bösartigen und zerstörerischen Attacken auf ihn nicht nur Stand zu halten, sondern sie vielmehr auch in seinen Möglichkeiten maximal auszugleichen. Eine unglaubliche Herausforderung, dessen Ausmaß ebenso verdrängt wird, gleichzeitig aber die Stärke und den wahren unbändigen Lebenswillen zeigt.

Im Entwicklungsalter bilden sich Angststörungen, Minderwertigkeitskomplexe, Unsicherheiten aus und vieles mehr, was in das Symptomenbild der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung fällt, aber auch eine Vielzahl anderer Erkrankungsbilder, die aus komplexer Traumatisierung entspringen. Die Erkrankung und die Symptomatik stellen ein überlebenssicherndes Ventil für die verbotenen, ungelebten und zwangsweise unterdrückten Gefühlswelten aus dem Trauma dar. Wird der erwachsene Mensch in bestimmten Alltagssituationen an das Erlebte erinnert, werden die traumabedingten Reaktionen sowie die Symptomatik der Erkrankung aktiviert. Er fällt auf das ursprünglichste Trauma in ihm zurück und ist zurück katapultiert auf das Kind von einst. Da ihm bisher keine Aufarbeitung möglich war, ihm gute Vorbilder und Hilfen fehlten, findet er im Heute keinen adäquaten Umgang mit sich als Erwachsener, der durch einen unvorhersehbaren Auslöser innerlich auf das traumatisierte Kind, mit all seinen Gefühlen und Reaktionen, zurückfällt.  Dieser Zustand ist äußerst angsteinflößend und bewirkt möglicherweise eine enorme Destabilisierung im Leben des Betroffenen, besonders wenn die Zusammenhänge zur Ursache und Hilfen fehlen. In diesen Momenten fällt ein betroffener Mensch in das Trauma zurück, also auch in die Dissoziation, die die Handlungsfähigkeit in der Reaktionsweise des heute erwachsenen Menschen bedeutet. Im übertragenen Sinne lebt der Mensch nun die verängstigten, verletzten und kindlichen Emotionen und handelt nach seinem „inneren traumatisierten Kind“.

 

Durch elterliche Konditionierungen und Manipulationen verdammt zum EinzelkämpferIn

Da die Eltern die Erziehungsberichtigung und den unkontrollierten Zugriff für ihre Straftaten auf ihr Kind haben, steuern sie auch, ob und inwieweit Hilfe und justiziables Eingreifen von außen möglich werden. Damit gerät ihr Opfer immer mehr in die innere und äußere Isolation. Ein Austausch zu anderen Menschen wird auf unterschiedlichste Weise unterbunden und auch durch psychologische Manipulationen manifestiert, wie zum Beispiel:

„Du bist ein schlechter Mensch, mit dir will keiner etwas zu tun haben!" „Dir wird niemand glauben!", „Die sperren dich weg!“ oder andere Konditionierungen, die die Eltern dem Kind ohnehin jeden Tag entgegenbringen und ihm durch die Schuldumkehr und die Abhängigkeit zu ihnen Angst machen. Es geht aber auch drastischer, indem Freundschaften durch die Eltern bewusst auf unterschiedliche Wege zerstört werden und so im Erwachsenenalter vielleicht immer noch unklar ist, warum die beste Freundin von damals auf einem Mal nicht mehr Teil des Lebens war. An dieser Stelle ist nochmal festzuhalten, dass wir über Straftaten sprechen und die TäterInnen abhängig von der Fassade und vom Schweigen ihrer Kinder sind. Gibt es dennoch Ausbruchsversuche des Kindes, zum Beispiel, indem es sich der Lehrerin oder dem Kindergärtner anvertraut, werden oft die Eltern als erstes informiert und die Konsequenzen für dieses Vergehen hat das Kind zu tragen. Damit ist die Erfahrung sich Hilfe zu holen häufig auch mit einer erneuten Traumatisierung verbunden, so dass dies den Einzelkämpfermodus zusätzlich bestärkt.

 

Folge: Eigene Gefühle werden in einem inneren Safe zwischengelagert und tief verschlossen, mit dem erzwungenen Kompromiss nur halb zu leben.

 

Erfährt ein Mensch dies von klein auf an, lernt er früh sich anzupassen, seine Gefühle zu verstecken oder so zu leben, dass ihm keine Gefahr durch seine Gefühlswelt droht. Er entfernt sich immer weiter von sich selbst, stirbt er doch psychisch mit jeder Gewalttat und erneuter Selbstverleugnung ein Stückchen mehr und leidet unter diesem tiefen inneren Konflikt. Die stetige, ihn weiter schwer traumatisierende Gewalt raubt ihm die Kräfte, so dass er, um zu überleben, dazu verdammt ist, das Leben der TäterIn - im Fall von familiärer sexualisierter Gewalt das Leben der Eltern bzw. der Familie – zu leben. Es kommt zum überlebenswichtigen Notfallplan, die Verletzung, den Schmerz, die Wut und vieles mehr tief im Unterbewusstsein vor sich selbst zu verstecken, da ein Ertragen dieser Gefühle, während noch Übergriffe erlebt werden, unmöglich und lebensgefährlich wäre. Gerade durch das wiederholte Erleben und die damit verbundenen neuen, schrecklichen Erfahrungen kostet es unheimlich viel Kraft, diese starken Gefühle so gut es geht aus dem Bewusstsein zu verbannen und im Unterbewusstsein zu belassen.

Da ich hier vorrangig von Entwicklungstraumatisierungen spreche, meine ich mit diesem verdrängten verletzten Gefühlsteil das sogenannte „innere Kind“, welches im Erwachsenenalter dann durch das Aufbrechen des Traumas bzw. der damit verbundenen Gefühlswelten ins Bewusstsein gelangt.  Verständlicherweise ist auch das Kontingent der Verdrängung ins Unterbewusstsein irgendwann erschöpft, auch wenn der betroffene Mensch nahezu alles dafür tut, um die unerträglichen Gefühle dort zu belassen. Mit „alles“ ist tatsächlich so gut wie alles gemeint. Sie müssen sich dafür nur die Vielfältigkeit an Kompensationsmechanismen und Erkrankungen ansehen, die im weitesten Sinne zur Überlebensstrategie dazuzählen, auch wenn die Erkrankungen durch sich selbst schon extrem sein können. Dienen sie dem Menschen doch auch dazu ihren Schmerz zu verlagern, auf einem Umweg ihr Leid und ihre Not auszudrücken und vielleicht sogar über sie die Gefühle zu bekommen, die sie sonst nicht erhalten. Eine Sucht zum Beispiel hilft dem Menschen seine Verdrängung und innere Taubheit aufrecht zu erhalten. Krankenhausaufenthalte oder Erkrankungen bringen ihm Fürsorge, Aufmerksamkeit und liebevolle Gefühle statt Ablehnung und Einsamkeit. Selbstverständlich ist dies immer individuell und auf das persönliche Schicksal zu betrachten und soll keine allgemein gültige Aussage sein. Meiner Erfahrung nach lässt sich jedoch in vielen Fällen, neben der psychosomatischen Verlagerung des Traumas, auch ein tiefenpsychologisches Prinzip hinter den Symptomen und Erkrankungsbildern erkennen. Jeder Mensch ist auf der Suche nach dem Ausgleich seiner Gefühlsdefizite, die er zum Leben braucht.

 

Je jünger ein Mensch ist, um so mehr Möglichkeiten und Kapazitäten hat er, um die unterdrückten Gefühle zu kompensieren. Abhängig unter anderem von der Intensität, dem eigenen Alter und der Dauer der traumatischen Gewalt werden die Mittel und Wege der Kompensation den Betroffenen krank machen und es entstehen Komorbiditäten wie zum Beispiel Süchte, Essstörungen oder andere psychische und / oder physische Erkrankungen. 

Diese oft langjährige und tiefgehende Anstauung der Gefühle ist wichtig zu verstehen, da sie nicht nur erklärt, warum dieser Mensch nur zu Hälfte oder weniger leben kann, sondern auch, warum er beim Aufbrechen des Traumas einen so tiefen innerlichen Absturz und Zusammenbruch erlebt. Die jahre- bis jahrzehntelange Kompensation hat ihm alle Kräfte zum Überleben abverlangt, bis es schließlich zur Dekompensation, oft durch einen weiteren Schicksalsschlag, kommt und der Staudamm innerlich Risse bekommt oder gar bricht. Diese Lebensveränderung stellt den Betroffenen vor die alles entscheidende Frage, ob er innerlich kapituliert oder sein Leben samt dem Scherbenhaufen aufräumt und leben will.

Anders gesagt, der Schutzmechanismus der Verdrängung hilft ihm über die Zeiten der Gewalttaten hinweg. Erreicht der Mensch nun eine Ebene in seinem Leben, auf der er sich erholter und maximal sicher fühlen kann oder das sprichwörtliche „Fass“ voll ist und durch ein einschneidendes Ereignis im Leben überläuft, gibt die Seele die Erinnerungen frei und nichts ist mehr so, wie es war. An diesem Punkt kommt ein betroffener Mensch nicht mehr umhin als hinzuschauen und ist erschrocken, wie kindlich, hilflos und irrational er sich plötzlich verhält und scheinbar die Kontrolle über sich und sein mühselig aufgebautes und kompromissdurchzogenes, oft stark eingeschränktes Leben verliert.

 

Aber ist dies wirklich ein plötzlich auftretendes Verhalten?

Blickt man als Außenstehender auf dieses schreckliche, nicht in Worte zu fassende und unerträgliche Schicksal ist recht deutlich erkennbar, dass es sich um Gefühle und Verhaltensweisen handelt, die zuvor schon da waren und dem Betroffenen, durch das Wegfallen oder Schwinden der Verdrängungsfähigkeit, mehr und mehr bewusst werden.

Je stärker die Fähigkeit, die Dinge aus dem Bewusstsein zu verdrängen oder auch die Kraft für die unterschiedlichsten Kompensationsmöglichkeiten schwindet, desto unmittelbarer wird das innere Kind bzw. die seelische Verletzung durch das Trauma und die Realität sichtbar.

Ein Schock - selbstverständlich - aber eine bittere Notwendigkeit, um nicht weiter ein Leben in der zunehmend krankmachenden, täterkonditionierten und lebensbedrohlichen Illusion zu leben. 

 

Wenn das nicht beachtete und zurückgelassene „innere Kind“, welches für die seelische Verletzung steht, zur Lebensbedrohung wird.

Die Lebensbedrohung findet, wie die meisten Betroffenen sicher bestätigen werden, auf unterschiedlichste Arten statt.

Es ist die seelische Ebene, die einem die oktroyierte Gefühlswelt der TäterInnen durch posthypnotische Befehle, Introjektionen und Konditionierungen immer wieder nagend und bohrend vor Augen führt und den Menschen psychisch an den Rand des Wahnsinns, erneut in die Fänge der TäterInnen und ihrer Trittbrettfahrer oder gar in den Suizid treibt. Die geistige Ebene untermauert diese Gefühlswelt mit den entsprechenden Gedanken und irrationalen, weil auch aus der kindlichen Naivität heraus geborenen, Verhaltensweisen auf fatalste Weise. Zu lange und zu tief sind diese Gefühle und Gedanken Teil des Lebens und irgendwann kam es mit der gefühlt unaufhörlichen Gewalteinwirkung durch die eigenen Eltern bzw. der Familie zur Identifikation, so dass man sie nach all der Zeit für die eigenen hält und die innere Abgrenzung damit unmöglich scheint. Und zu guter Letzt ist es die körperliche Ebene, die diesen seelischen und geistigen Konflikt, der zumeist in weiten Teilen unterbewusst stattfindet, oft durch Erkrankungen psychosomatisch sichtbar macht und auch hier nicht selten den Tod fordert. 

An diesen hier nur ansatzweise zu beschreibenden komplexen Folgen in allen Lebensbereichen wird der unglaubliche Lebenswille und die Kraft eines sexuell missbrauchten Menschen sichtbar. Die Tragik liegt darin, dass der so leidgeprüfte, geschwächte und lebenslang kämpfende Mensch am wenigsten an sich glauben kann. Dieser von den TäterInnen geschaffene Umstand wird gnadenlos von ihnen ausgenutzt und sichert ihnen das Schweigen, die Wehrlosigkeit und Unglaubwürdigkeit ihres jahre- und jahrzehntelang gequälten Opfers.

All diese bewussten und unterbewussten Gefühle laufen in einem sexuell missbrauchten Menschen permanent ab und es ist unvorstellbar, was dieser Mensch alles zu bewältigen hat und erklärt mit dem Blick auf die unaufhörlichen Taten in Kindheit, Jugend bis im schlimmsten Fall ins Erwachsenenalter hinein, warum selbstredend psychische, geistige und körperliche Schäden davongetragen werden. Eine Leistung, die einem Extremsportler auf seelischer, geistiger und körperlicher Ebene nur im Ansatz gleichkommt und sich kaum in Worte fassen lässt. 

 

Die Präsenz des „inneren Kindes“ und der später nutzbare Gefühlsradar, um uns im Heute zu schützen und zu leben.

Durch die Bewusstwerdung des „inneren Kindes“, des Zeitpunktes des ursprünglichsten Traumas, also als alles begann, und an dem der sich in der Entwicklung befindliche, kleine Mensch sich bereits verlassen und innerlich zurückziehen musste, steht der nun erwachsene Mensch vor der Herausforderung, sich diesem inneren traumatisierten Kind und dies als ein Teil von sich anzunehmen. Symbolisiert doch das „innere Kind“ die verdrängten und ungewollten Verletzungen durch das Trauma, welche den Erwachsenen bewusst und unbewusst beeinflussen und bei genauerer Betrachtung natürlich auch immer schon beeinflusst haben.

Es prallen nun Welten aufeinander und die Überforderung ist riesig, da der Betroffene nie gelernt hat, was es bedeutet, ein positiver Elternteil zu sein, geschweige denn nun beides, Mutter und Vater, für dieses schreiende, trotzige, übersensible und hochgradig verängstigte Kind in einem zu ersetzen. 

Sicher ist hier der erste Schritt die Akzeptanz dessen, dass niemand vor seiner Realität wirklich weglaufen kann und ein echtes und vor allem sicheres Leben nur ohne weitere Lügen und Verstecken vor sich selbst möglich werden kann. 

Und wie soll ein Mensch aus seinen Erfahrungen lernen sich zu schützen, wenn er die größte Verletzung seines Lebens in sich selbst verstecken musste und dies der bisher einzig halbwegs funktionierende Schutz zum Überleben war?

Aus eigener leidvoller Erfahrung als Selbstbetroffene und als Helferin kann ich sagen, solange die Dramatik des Missbrauchs in einem versteckt wird, solange werden es TäterInnen schaffen, das verletzte Kind in einem zu erreichen, da ohne die Aufarbeitung und Integration der Verletzung kein Schutz durch sich selbst, als heute erwachsener Mensch, aufgebaut werden kann. 

 

Sich Hilfe zu suchen, bedeutet Verantwortung für sich selbst zu übernehmen

Natürlich braucht es Hilfe, um die Komplexität und die Zusammenhänge des Ganzen in sich zu verstehen. Ebenso wird konstanter Zuspruch, um den Mut und die Kraft in sich zu finden, sich seiner Wahrheit zu stellen, benötigt. Es ist ein wichtiger und großer Schritt, für sich da zu sein, um schließlich den Schutz für sich zu entwickeln, der natürlicherweise durch eine Mutter oder einen Vater gegeben wird. Vor allem dann, wenn dieser Mensch kein entsprechendes Vorbild hatte. Der Schmerz darüber, diese Menschen nicht für sich und sein Leben gehabt zu haben, ist unermesslich und wird, nach meiner Erfahrung, vermutlich nie ganz verschwinden.

Bei allem Schmerz darüber ist es hier wichtig zu erkennen, dass die Eltern, die man hatte, sich nie wie solche verhalten haben, sondern MissbraucherInnen, TäterInnen und VergewaltigerInnen gewesen sind - StraftäterInnen und psychisch kranke Menschen also, deren Aussagen und „Gefühlsverträge“ für den betroffenen Menschen nicht mehr gelten und die ihm aufgezwungen wurden, da er als ihr Kind in ihre Welt hineingeboren wurde. Kein Kind der Welt trägt für das Geschehene die Schuld oder die Verantwortung und sollte sich von dieser schwerwiegenden Form der Täter-Opfer-Umkehr lossagen.

 

Du als betroffener Mensch bist heute erwachsen. Du bist kein Kind mehr und niemand steht mehr über dir außer du selbst!

Heute bist du selbst für dein Leben verantwortlich, kannst eigene, freie und selbstbestimmte Entscheidungen treffen und darfst, ich würde sogar sagen: du musst, diese Konditionierungen innerlich loslassen und mit aller Macht in dir bekämpfen und abwehren. Als deine selbstdefinierte und deinen Wunschvorstellungen entsprechende Mutter oder dein Vater bist du in der Lage, mit deinem Trotz, der Wut und dem Hass in dir, aber auch mit dem Respekt vor deiner Leistung, dem unbändigen Überlebenswillen, dem tiefen Verständnis und der damit vorhandenen Liebe zu dir selbst, dein Schutzschild aufzubauen. Ein Schutzschild, welches zur inneren und zur äußeren Abwehr nutzbar ist. Eines welches du mit Hilfe immer weiter aufbauen kannst, um nicht nur Stabilität zu erreichen, sondern auch um eine permanente Reaktions- und Abwehrbereitschaft allen Manipulations- und Übergriffsversuchen dir gegenüber zu entwickeln und dich selbst noch mehr lieben und achten zu lernen.

Liebe und Respekt dir selbst und deinem Überleben gegenüber befähigen dich, den langen und beschwerlichen Weg zu dir selbst zurückzugehen, um der Mensch zu sein, der du immer tief in deinem Herzen warst und der du geworden wärst, wenn du nicht gezwungen gewesen wärst dich aus Schutzgründen zu verstecken. Auf dem Weg in dein Leben danach profitierst du von den gemachten Erfahrungen und nutzt diese „Superkräfte“, um allen Widerständen zum Trotz durchzustarten.

Willst du leben, ist es wichtig dir deine Freiheit und dein Leben zurückzuerobern und natürlich ist dies ein Prozess und eine Entwicklung, die Zeit, Geduld und Kraft erfordert. Es wird Fehlversuche, Misserfolge und Rückschläge geben, aber auch dies ist eine Erfahrung von vielen, die dir im Leben immer wieder begegnet, die dich wachsen und dich weiterentwickeln lässt - Erfahrungen, die du bereits als Kind durch deine Eltern hättest lernen sollen.

 

Aus dem heute erwachsenen Menschen Stabilität und Widerstandsfähigkeit bewusst nutzen und neu lernen

Kritikfähigkeit, ehrliche Selbstreflexion, eine realistische Wahrnehmung für uns und andere, die Fähigkeit sich nicht nur wieder für sich selbst, sondern auch für andere zu öffnen gehört zur Stabilität dazu und vieles davon braucht Übung und stellt einen entwicklungstraumatisierten Menschen vor große Herausforderungen, wenn seine bisherige Superkraft aus guten Gründen im Verschließen lag. Es sind also viele Fähigkeiten, die den zwischenmenschlichen Umgang betreffen, die wegen der Umstände unzureichend oder gar nicht erlernt werden konnten. Die Ressourcen wurden damals in der natürlichen Lernphase, mit der sich der Mensch nun zeitversetzt erneut konfrontiert sieht, zum Überleben gebraucht und machten die volle Kraft und Aufmerksamkeit erforderlich.

Das Erwachsensein bietet die Möglichkeit sich sicherer zu fühlen, da allein die Körpergröße und Kindlichkeit den Tätern nicht mehr zugutekommen. Es ist die kindliche Wahrnehmung, die Gefühls- und Erfahrungswelt eines Kindes, die Betroffene glauben lässt, sie seien ebenso wehr- und hilflos wie ein Kind und hätten dementsprechend keine Chance oder auch keine Kraft. Dies ist ein „altes“ Gefühl und wie ein Trigger sprich Auslöser der alten traumatischen Gefühls- und Verhaltenswelt zu betrachten und ist aus der Perspektive und dem Bewusstsein eines Erwachsenen betrachtet nicht realistisch.

 

Beispiel:

Als Erwachsener stimmen die Größenverhältnisse beispielsweise mit der Hand eines anderen Erwachsenen überein. Stellen wir nun die Wahrnehmung eines entwicklungstraumatisierten Menschen gegenüber, ist die Realität entsprechend der traumatischen Abspeicherung, die auf der unverarbeiteten, schmerzhaften kindlichen Erfahrung basiert, stark zur Gegenwart verzerrt. Die Hand eines Erwachsenen ist je nach Alter des Kindes übermächtig und riesig. So riesig, dass sie den ganzen Kopf eines Kindes bedecken kann. Aus dieser traumatisch bedingten Vorstellung und Wahrnehmung heraus bekommt ein dem TäterIn ähnlicher Mensch dann eine Übermacht zugesprochen, die er aus der gegenwärtigen erwachsenen Perspektive gar nicht hat. Diese realistische Wahrnehmung gelingt dann, wenn der traumatisierte Mensch fähig ist, sich bewusst als Erwachsener wahrzunehmen und entsprechend seinen gegenwärtigen Möglichkeiten zu handeln.

 

Schütze dich davor zu vergessen, wer du wirklich bist!

Wenn du dieses entsetzliche Schicksal der inzestuösen Gewalt mit mir teilst, dann hast du dem Tod mehr als einmal ins Auge gesehen und dir vermutlich an der ein oder anderen Stelle eben diesen gewünscht. Aber du bist wie ich und viele andere auch hier und liest diesen Text, beschäftigst dich mit deinem Thema, welches die Gesellschaft nach wie vor noch nicht aushält und tabuisiert. Du schon, wenn auch zwangsläufig, aber es macht einen gewaltigen Unterschied in Bezug auf die seelische und geistige Stärke.

Du hast überlebt und alles dafür getan, um an dem Punkt zu stehen, wo du stehst. Niemand weiß das besser als du selbst. Sicher ist längst nicht alles gut, geschweige denn perfekt, aber doch einiges besser als damals, oder? Was hast du alles, der sexualisierten Gewalt samt ihren komplexen Folgen zum Trotz, erreicht? Sei es die Ausbildung, der Beruf, deine Herzlichkeit und Menschlichkeit, die eigene Familie oder die besonderen Fähigkeiten, die dein Umfeld an dir schätzt und vieles mehr. Das warst du und das ist dein Kampf und dein Sieg!

Vergiss nie, wie stark du bist, wenn du dich beispielsweise mit einem Menschen vergleichst, der zu seinem Glück hoffentlich nicht dieses schlimme Schicksal teilt und der vermutlich nicht eine Geschichte aus deinem Leben ertragen könnte, da es für ihn mit seiner Erfahrungswelt verständlicherweise unerträglich wäre. Er kann nicht verstehen, was du durchgemacht hast, kann kein Urteil fällen und er kann deine Stärke nicht bemessen. Aber du kannst es, wenn du dir erlaubst dich von außen zu betrachten. Stell dir vor, jemand anderes hätte das erlebt, was du erleiden musstest, was würdest du ihm heute sagen? Erlaube dir, dir dasselbe zu sagen. Sieh dich in dem Licht, wie es eine positive Mutter tun würde und halte dich an deiner übermenschlichen Stärke fest, die dich hat überleben lassen.

Du bist längst erwachsen geworden. Lass dich nicht von deiner Vergangenheit und den negativen Prägungen und Bildern derer, die dir das antaten, täuschen. Die Annahme der Vergangenheit ist wichtig, um zu verstehen, zu erkennen, sich zu schützen und sich seelisch, geistig und körperlich und damit auch im sozialen Umfeld auszuheilen zu können und Symptome zu lindern. Sie soll dazu dienen, deine Kraft zu spüren, um dein Leben in positive Bahnen zu lenken, nicht dazu, dich weiterhin in schlechtem Licht zu betrachten.

Deine Lebensqualität ist also entscheidend davon abhängig, wer du glaubst zu sein und ich kann nur aus eigener Erfahrung sagen, dass der Weg sich mehr als lohnt und er trotz aller Widerstände zu schaffen ist. Selbst die scheinbar kleinen Schritte haben eine große Auswirkung auf deine Lebensqualität und ich möchte dir aus ganzem Herzen Mut zusprechen an dich zu glauben, dich nicht mehr vor dir selbst zu verstecken und dein Leben mehr und mehr selbstbestimmt in die Hand zu nehmen, ohne jemals noch ein einziges Mal auf die Gefühle und Gedanken derer zu hören, die auf so entsetzliche Weise mit dir umgegangen sind. Du bist es nicht nur mehr als wert und hast es verdient glücklich zu sein, sondern die Welt braucht dich auch als diejenige, die wiederum anderen Hoffnung und Zuversicht, gibt als ein Mensch mehr, der es geschafft hat. Lass uns die Welt verändern, indem wir aufstehen und der Welt zeigen: keine Macht den Tätern und Täterinnen!

 

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