Oft fällt es schwer, das erlebte Grauen und die jahrelange Verzweiflung in passende Worte zu fassen. Dies ist die Geschichte einer Betroffenen, in der die Träne stellvertretend für das kleine Mädchen ist, das sie einst war.
Und die kleine Träne machte sich auf den Weg. Ihre Reise war lang und beschwerlich, über hohe Mauern aus Stein und Eis, die die Zeit über die kurzen Jahre ihres Lebens bereits errichtet hatte. Lang und mühsam war der Weg. Aus allen Ecken hörte sie die Stimme der Angst und das leise Flüstern des Zweifels: „Geh nicht! Es ist zu gefährlich. Du wirst alles noch viel schlimmer machen.“
Sie hörte es, sie spürte es, aber es gab keinen Weg zurück. Denn sie hatte es gesehen. Dort, am Ende des Regenbogens, weit weg, hinter dem Horizont hatte sie es noch vernommen. Ein kleines Flimmern, ein leises Licht, so zart, dass sie es fast übersehen hätte, und doch so stark, dass es die endlose Dunkelheit der Seele, die ihr Zuhause war, für einen kurzen Augenblick durchbrach und so rein und schön war, dass es die kleine Träne zum Glitzern brachte: das Licht der Hoffnung!
Sie wusste nicht, was es verursacht hatte. Vielleicht war es ein Lächeln gewesen, eine sanfte Berührung oder ein freundliches Wort. Alles, was sie wusste, war, dass sie sich aufmachen musste, egal wie mühsam es auch war. Und so löste sie sich aus dem Meer der Tränen, das sie mit all ihren Brüdern und Schwestern teilte. Weit unten lag es, weit unten am Boden der versteckten Erinnerungen, verbunden mit dem endlosen Schmerz der Nacht, leise und beinahe vergessen.
Und so rollte die Träne den langen, langen Weg hinauf. Nichts würde sie aufhalten, kein Zweifel, keine Angst sie davon abhalten, das Licht der Welt zu erblicken. Durch kleine Risse zwängte sie sich, dicke Eisschichten brachte sie zum Schmelzen und nach endlosem Umherirren war sie schließlich am Ziel. So erschöpft war sie, so müde von der langen Reise, dass sie schon aufgeben wollte und sich vom Strom zurück in die Dunkelheit tragen lassen. Doch dann erinnerte sie sich wieder. Sie erinnerte sich an das, was sie fühlte, als sie das Licht gesehen hatte. Sie fühlte, wie das Licht ihr ein Versprechen gab.
Und so nahmen Einsamkeit und Sehnsucht sich bei der Hand und gaben der Träne den letzten Schups, und sie ließ die Dunkelheit für immer hinter sich. Glitzernd und tanzend rollte sie die lange Wimper hinab. Sie wusste es einfach. Tief in ihrem kleinen Tränenherz wusste sie es. Das hatte das Licht ihr versprochen.
Sie ließ sich fallen, sie ließ einfach los. Sie wusste, dass alles gut werden würde. Sie hatte es doch gespürt, das hatte das Leben ihr versprochen. Deswegen hatte es doch dieses wunderschöne, warme Licht zu ihr geschickt, damit sie wusste, dass es noch Hoffnung gab, dass sie nicht alleine war, dass sie all ihre Brüder und Schwestern befreien konnte, dass jede einzelne Träne ein Stück der Dunkelheit mit sich nehmen und endlich wieder das Licht die Seele erfüllen konnte. Sie wusste es und sie glaubte daran.
Und sie fiel und fiel. Gleich, gleich war sie bestimmt da, die starke Hand, die sie auffangen würde, so sicher und warm, so zart und vorsichtig, wie ein Zuhause, das sie so lange nicht hatte, ein Zuhause, das sie beschützen und behüten würde. Gleich, ganz bestimmt. Und sie fiel und fiel immer weiter, immer tiefer. Aber da war keine Hand, die sie auffing, kein Streicheln, an dem sie herunterfließen konnte, kein Halt, keine Sicherheit. Und sie fiel und fiel, immer weiter, ins Bodenlose. Langsam begriff sie, dass es eine Lüge war. Es gab kein Versprechen, keine Wärme und keine Hoffnung. Sie fiel immer weiter, Panik machte sich in ihr breit und sie fing an zu schreien, dass irgendjemand sie auffangen musste. Sie schrie und schrie, doch niemand hörte sie.
Oder gab es irgendwo auf der Welt einen Menschen, der schon einmal eine Träne hat schreien hören?
Sie fiel weiter und weiter, bis ihr Fall plötzlich ein jähes Ende nahm und sie mit so starker Wucht auf den harten Boden der Realität aufprallte, dass die endlose Wüste der Wirklichkeit das Echo ihres Aufpralls weit hinaus in die Einöde trug. So hart war der Aufprall, dass es die kleine Träne in tausend winzige Tröpfchen zerriss, die für den Bruchteil einer Sekunde durch die trockene Luft flogen und dann im leblosen Boden landeten, wo bereits die ausgetrockneten Sandkörner auf sie warteten, um gierig das Leben aus ihnen heraus zu saugen.
Und so verbrannte die tödliche Hitze des Tages jede Erinnerung, die es je an eine kleine mutige Träne gegeben hatte und die eisige Kälte der Nacht gefror das, was noch von ihr übrig war, zu spitzen Kristallen, die den Schmerz tief in sie stachen. Jeden Tag und jede Nacht. Voller Verzweiflung dachte sie in ihren letzten Augenblicken:
„Ach, hätte ich doch nur niemals hingesehen. Ach, hätte ich mich nur einfach umgedreht und so getan, als hätte ich es nicht gesehen, das kleine Licht der Hoffnung, damals am Ende des Regenbogens. Ach hätte ich mich doch nur nie auf den Weg gemacht.“
Der Wind nahm ihre letzten Gedanken huckepack und trug sie mit sich fort. Weit hinaus trug er ihre Worte, über Wiesen und Felder, über hohe Berge und in tiefe Täler. Überall, wo er hinkam, sang er ihr Lied. Man konnte es hören in den Blättern, die über den Boden wehten, in dem Rauschen, das durch die Bäume ging und in dem Pfeifen, wenn der Wind durch einen Türspalt glitt. Das Lied war immer da, aber alles, was die Menschen hörten, waren Blätter, die über den Boden wehten, ein Rauschen, das durch die Bäume ging und ein Pfeifen, wenn der Wind durch einen Türspalt wehte.
Und so war es, jahrein, jahraus. Der Wind wehte und die Bäume rauschten, immer in der Hoffnung, dass es eines Tages einen Menschen gäbe, der sich hinstellt, die Augen schließt und hört, was der Wind ihm zu sagen hat. Der sich auf den Weg macht, mutig alle Hindernisse überwindet, Mauern und Berge erklimmt und die karge Wüste der Realität durchquert, um schließlich an den Punkt zu gelangen, wo vor langer Zeit eine kleine Träne auf grausame Weise ihr Leben ließ. In der Hoffnung, dass er kurz innehalten und seine Arme ausstrecken möge, um die nächste kleine Träne, die sich mutig auf den Weg macht, vorsichtig aufzufangen und ihr endlich das Zuhause zu geben, wonach sie schon ihr Leben lang gesucht hat.
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