Wir Menschen neigen dazu, Dinge, die wir nicht sehen wollen, nicht spüren wollen, zu verdrängen und aus unserer Wahrnehmung verschwinden zu lassen. Auch der Umgang mit Corona hat durch die unterschiedlichen Reaktionsweisen auf vielerlei Weise gezeigt, was bei vielen Menschen geschieht. Die Bedrohung durch ein Virus, andere Notstände und Erkrankungen wird oft so lange verdrängt, so lange man selbst keine Symptome und Leiden für sich und sein unmittelbares Umfeld erfährt. Die Scheuklappen werden aufrechterhalten. Es ist eine Art der Abgrenzung und des Schutzes nach dem Prinzip: Wenn ich es nicht spüre, dann geht mich nichts an und betrifft mich nicht. Eine Überlebensstrategie, um mit Angst, Unsicherheit und auch fehlender Information umzugehen, wenn keine andere Option machbar scheint. Erst wenn der erste geliebte Mensch erkrankt, nicht mehr zu heilen ist und im schlimmsten Fall stirbt, ist es nicht mehr möglich, wegzuschauen.
Dieses Prinzip lässt sich auch auf den Bereich Traumatisierung im Entwicklungsalter durch sexualisierte Gewalt umlegen, insbesondere wenn wir über den Tatort Familie/Nahfeld sprechen, in dem erfahrungsgemäß häufig Generationstrauma vorliegen. Der Selbstschutz durch Tabuisierung und Verdrängung ist in diesem Bereich an ähnliche Faktoren wie die eben erwähnten geknüpft. Auch die Spätfolgen sind schwer, lebenslang, enden nicht selten in chronischen Krankheitsbildern mit Komorbiditäten oder sogar im Tod, so dass sich hier durchaus Parallelen mit einer tödlichen Erkrankung ziehen lassen. Der Unterschied ist, dass die Spätfolgen als von der Ursache losgelöste Erkrankungsbilder betrachtet werden und so ein Verschleiern für alle an der Straftat Beteiligten leichter wird. Verdrängung, die sich auch in Desinteresse und Gleichgültigkeit zeigt, Rationalisierung, Naivität und die daraus folgende, oft egomanisch motivierte Ignoranz sind große Schwächen vieler Menschen.
Kann den Menschen ein Vorwurf gemacht werden?
Inwieweit ist der Vorwurf berechtigt, wenn gleichermaßen zu wenig Information, Wissen, Tabubruch und Aufklärung betrieben wird oder sogar Fehlinformationen verbreitet werden? Wie soll ein Mensch, der über keinerlei Berührungspunkte und über kein auf praktischen Erfahrungen basierendes Fachwissen verfügt, sich dem vielschichtigen Thema der familiären sexualisierten Gewalt alltagstauglich nähern? Wie soll er einen adäquaten Umgang finden, Schutz und Prophylaxe betreiben oder aus den Erfahrungen anderer lernen, wenn es eine kollektive Verdrängung gibt, die ihn unberührbar macht?
Wie man leider immer wieder sehen kann, wird der Mensch erst durch Leid und Transparenz umsichtiger und verständiger, was Schutzmaßnahmen, Weiterentwicklung und Umdenken betrifft. Erst wenn die Auswirkungen, zum Beispiel eines Virus, durch das Zeigen von Erkrankten, die Aufklärung über die Mortalität, das Aufzeigen der dramatischen Ausmaße sichtbar werden und die Tatsache, dass am Ende jeder betroffen sein kann, wird mehr und mehr reagiert. Ähnlich verhält es sich bei der Aufklärungsarbeit über die Folgen durch Rauchen, Alkohol oder im Straßenverkehr durch Raserei oder Unachtsamkeit durch das Handy am Steuer.
Wir scheuen uns vor drastischen Bildern, da wir sie nicht mehr verdrängen und vergessen können und bevorzugen die sogenannte Normalität.
Die kollektive Verdrängung als Schutz - Illusion oder Wirklichkeit?
Diese kollektive Verdrängung ist auf Dauer eine fatale Haltung, wenngleich sie auch berechtigte psychologische Gründe hat. Gaukelt sie uns vor, dass das Schreckliche, der Tod und Gräueltaten wie sexualisierte Gewalt in der eigenen Familie oder bei Freunden, Nachbarn und deren Kindern nicht existieren. Würden wir der schonungslosen Realität, die uns auch durch die hohe Dunkelziffer präsentiert wird, ins Auge sehen, würde dies nicht nur unser Leben, welches auf einem moralischen Wertesystem aufbaut, auf fundamentale Weise in Frage stellen, nein, wir wären überfordert und es wäre kaum bis gar nicht auszuhalten. Nicht weniger geschieht in einem Opfer von sexualisierter Gewalt durch die eigenen Eltern oder andere Vertrauenspersonen, die es von klein auf an prägen. Nur sollten wir diese Menschen, egal ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, mit dieser untragbaren Last allein lassen?
Die Tabakindustrie mit Bildern auf der Zigarettenschachtel oder auch das Straßenverkehrsamt mit plakativen Warnhinweisen an der Autobahn machen es uns vor. Das Bewusstsein, wie durch Teer in der Lunge ihre Funktion eingeschränkt wird und zum Tode führen kann, ähnlich dem Unfalltoten durch Raserei oder Ablenkungen am Steuer durch das Handy, soll sich in die Köpfe der Menschen einbrennen, damit diese gesunde Angst uns zur Vorsicht, zum Schutz und zur gegenseitigen Rücksichtnahme anhält. Selbstverständlich gibt es immer wieder Menschen, die auch dies ignorieren, aber es gibt auch viele andere und am Ende gilt: Steter Tropfen höhlt den Stein.
Von sozialer Distanz zu menschlicher Nähe
Die Fähigkeit des Mitgefühls schafft Offenheit, Empathie, Umsicht und Rücksichtnahme, da jeder Mensch betroffen sein kann oder es ihn treffen und berühren kann. Sind Tiefe, Dramatik und Auswirkungen von Gefahren und Folgen einer stark belastenden oder gar lebensgefährlichen Situation bewusst, kann ein nachhaltiges und realistisches Verständnis zu einer Problematik aufgebaut werden.
Aber wieviel Aufklärung und deutliche Bilder erlaubt die Thematik sexualisierter Gewalt und dann auch noch in dem Tabu im Tabu, der Familie? Und wie dringend braucht die Gesellschaft prägende Aufklärung, wenn die eigenen Eltern die Sexualstraftäter sind, die ihr Kind sexuell ausbeuten, ihre Entwicklung schädigen, ihr Leben nachhaltig und zum Teil unwiederbringlich zerstören und sie niemand in ihrem seelenmörderischen Handeln aufhält?
Für familiär sexuell missbrauchte Menschen ist ein Leben in (Seelen-)Quarantäne, der inneren Isolation, zur Normalität geworden, da der Virus des Missbrauchs und der Gewalt, den sie erzwungenermaßen in sich tragen, kaum und eher selten Heilung findet. Hier ist sicher auch die Verantwortung untereinander, durch das kollektive Wegsehen und das hartnäckige Tabu, zu suchen, welches zur Stigmatisierung, Ausgrenzung und dem Tragen des auch gesellschaftlich verpassten Maulkorbes der Betroffenen beiträgt.
Wie soll sich ein gemeinschaftliches Bewusstsein für ein gemeinschaftliches, seit Menschengedenken bestehendes Problem, wie der sexualisierten Gewalt innerhalb der Familie, auf der Basis von kollektiver Verdrängung lösen, geschweige denn sinnvolle Prophylaxe geschaffen und Therapie betrieben werden, wenn ein Kind, welches inzestuöse Gewalt erlebt, auf die Gesellschaft in all ihren Kapazitäten der Hilfe angewiesen ist?
Die zumeist einsame Odyssee der Opfer
Menschen, die sexualisierte Gewalt durch die eigenen Eltern und die Familie von Kindesbeinen auf an und über Jahre oder auch Jahrzehnte hinweg erfahren mussten, müssen sich selbst mühselig Antikörper gegen die manipulierten Gefühlsmechanismen und Konditionierungen der TäterInnen erarbeiten und weiterentwickeln. Dies oft unter unfassbar erschwerten Bedingungen und unter enormer Kraftanstrengung, da ein Kind in einer Abhängigkeit zu den Eltern lebt und bis zum 18. Lebensjahr auch gesetzlich unter ihrer Entscheidungsgewalt steht. Hilfe in Form von Intervention ist auch vom Gesetzgeber nicht einfach, da erst eine sichere Beweislage vorliegen muss und dies sich in vielen Fällen über einen langwierig bürokratischen und rechtsicheren Aufwand hinziehen und zur lebensbedrohlichen Tortur für das Kind werden kann.
Ein passender Therapieplatz ist häufig Mangelware oder im laufenden Verfahren darf aus Sorge einer verfälschten Aussage durch therapeutische Arbeit keine Therapie gemacht werden. Viele Kinder und später erwachsene Betroffene tragen schwerwiegende Traumafolgen davon und sind nicht selten im psychiatrischen Gesundheitsnetz gefangen oder fristen u.a. ein Dasein in den Fängen von Trittbrettfahrern, der Prostitution und / oder Drogenabhängigkeiten und der daraus entstehenden Beschaffungskriminalität. Sie können auch in die Obdachlosigkeit rutschen oder wählen im schlimmsten Fall auch den Weg in den Freitod. Nicht selten ist diese Abwärtsspirale mit psychischen Erkrankungen, die natürlich ihren Ursprung in der entsetzlichen und unaussprechlichen Gewalt haben und somit psychosomatisch bedingt sind, verbunden. Die Betroffenen werden in ihren Spätfolgen oft von psychosomatisch bedingten Erkrankungen begleitet, die sich im Lauf der Zeit zu manifestierten, also organischen Erkrankungen ausgebildet haben. Sie führen ein Leben auf dem gesellschaftlichen Abstellgleis, dann nicht nur in psychischer Not, sondern irgendwann auch in sozialer und sogar finanzieller Not.
Es kann nicht sein, was nicht sein darf!
Sexuell missbrauchten Menschen wird oft immer noch nicht geglaubt, sie werden aufgrund ihrer teilweise drastischen Spätfolgen und psychischen Schädigungen stigmatisiert und stehen gesellschaftlich im Abseits. Geschwächt von ihrem Leid und der Odyssee in Kombination mit oftmals fehlendem oder unzureichendem Fachwissen werden die falschen Rückschlüsse gezogen und / oder es wird der falsche Therapieweg gegangen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf und es gibt keinen Beweis, außer dem vor einem sitzenden, psychisch auffälligen Menschen, dessen Erzählungen zu ver-rückt von „unserer geliebten Harmonie“ sind.
Die erforderliche individuelle und unkomplizierte Hilfe ist Mangelware
Oft wird gehandelt, wenn es schon viel zu spät ist, und in vielen Bereichen sind die Hilfen nicht so ausgebaut, wie sie sein müssten, um das entstandene Drama maximal zu kompensieren. Regeln, die unser tägliches Leben sinnvoll in einer gewissen Ordnung halten, behindern einen Hilfsbedürftigen in seiner Notsituation. Es braucht an vielen Stellen außerordentliche Regelungen, so wie sie in dem einzelnen, individuellen Fall benötigt wird, der ebenso außerordentlich ist, wenn wir über Lebensbedrohung sprechen.
An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass Lebensbedrohung auch den psychischen Tod meint, der für einen schon seit dem Entwicklungsalter traumatisierten Menschen mit jeder zusätzlichen Stresssituation näher rückt, da er bereits sein Leben lang durchhält und selbst seine psychische Erkrankung eine Überlebensstrategie darstellt.
Sexualisierte Gewalt in der Familie ist so alltäglich wie außergewöhnlich und sie hat durch die Tabuisierung und über die häufig bestehende generationsübergreifende Familienproblematik eine erschreckende Quote an Unsichtbarkeit erreicht. Durch die gesellschaftliche Verdrängung findet sie unterhalb des Wahrnehmungsradars statt – sie bleibt damit unantastbar aus der allgegenwärtigen Angst der Konfrontation, Offenlegung und den daraus erwachsenden Konsequenzen für uns alle.
Die „unsichtbare“ Gefahr - der Inzestkrieg
Betroffene von inzestuöser Gewalt leben, solange die TäterInnen und deren Handlanger noch leben und aktiv sind, in einem für die meisten nicht sichtbaren Kampf und führen einen Krieg um ihr Leben - dieser Krieg findet im Außen und im Inneren des Menschen statt.
Eine hohe Anzahl von Betroffenen kann nicht zur Polizei gehen, da eine Anzeige aus Mangel an Beweisen und auch aufgrund der Verjährungsfristen nicht greifen würde und weil kaum ein TäterIn, insbesondere aus der Familie, allein agiert. Das heißt, die Angst vor weiteren Übergriffen, Bedrohungen und Demütigungen besteht selbst nach einer Verurteilung des Täters oder der Täterin, vorausgesetzt der betroffene Mensch kommt überhaupt so weit.
Aus Mangel an Beweisen
Unsere Gesetzgebung basiert auf dem Prinzip: „Im Zweifel für den Angeklagten.“ Für ein Opfer bedeutet dies, dass es in der Beweispflicht ist und der Täter oder die Täterin schweigen kann. Gibt es keine Beweise, außer den betroffenen Menschen allein, kann eine Anzeige trotzdem sinnvoll sein, sollte aber gründlich überlegt sein. Denn ein Bewusstsein der bitteren Realität, dass der betroffene Mensch sich jederzeit vor Kontakten und Übergriffen adäquat schützen können muss, sollte vorhanden und vor allem praktisch umsetzbar sein. Führt die psychische Belastung zu einer zu großen Angst, die Dissoziationen und Handlungsunfähigkeit mit sich bringt, sollte über therapeutische Hilfe und weiterführende Schutzmaßnahmen nachgedacht werden.
Jeder öffentliche Schritt, vor allem der rechtliche, stellt eine Provokation des Täters oder der Täterin dar. Die Praxis zeigt, dass an diesem Punkt das Opfer besonders gefährdet ist und TäterInnen auf vielfältigen Wegen versuchen, das Opfer psychisch oder auch physisch unter Druck zu setzen. Das Ziel ist die Rücknahme der Aussage. Im Idealfall wird das Opfer mittels einer Verleumdungsklage mundtot gemacht oder aufgrund der von den Tätern angerichteten psychischen Folgen als unglaubwürdig dargestellt. Dies Risiko bezieht sich nicht nur auf die Zeit der Anzeige, sondern auch auf die oft jahrelange Prozessphase, bis es zu einer eventuell vollstreckten Verurteilung kommt. Auch gibt es Fälle, in denen selbst eine Haftstrafe die TäterInnen nicht davon abhält, ihr Opfer durch diverse Handlanger und Trittbrettfahrer weiterhin zu bedrohen oder es nach der Entlassung selbst aufzusuchen.
Der Schutz der Verdrängung wird zur Gefahr des Opfers und zur Eingangstür für jeden TäterIn
Die tagtägliche Gefährdung wird oft unterschätzt und ein Übergriff nicht selten erneut verdrängt, da unter Umständen noch keine ausreichenden Abwehrmechanismen erlernt werden konnten. Die Spirale des psychischen, physischen und voranschreitenden geistigen Verfalls schreitet ohne Hilfe zusehends voran. Der oder die TäterIn weiß um die Achillesfersen seines Opfers von einst besser Bescheid als der betroffene Mensch selbst, wenn er diese nicht bewusst bearbeitet und sie heute für sich und seinen Schutz zu nutzen weiß.
Unsere Wahrnehmung und unser Anspruch an unser Leben bestimmen die Qualität unseres Seins im Heute und Morgen
Wir Menschen sind Meister der Verdrängung, der Ignoranz und des Wegsehens. Jeder ist bedacht auf sein Überleben und der echte Blick für das Wesentliche kann schnell verloren gehen.
Stellen wir uns doch mal die Frage, wie sehr wir uns trauen, einen anderen, ja sogar geliebten Menschen in der Tiefe wahrzunehmen? Wie tief traut man sich wirklich, in sein Gegenüber hineinzusehen? Wie geht es meinem Freund, meiner Freundin oder der Nachbarin wirklich? Schauen Sie wirklich hin, ob und warum ein Mensch sich verändert hat? Und kennen wir es nicht auch von uns selbst, dass wir die wichtigen und unangenehmen Dinge eher herunterspielen und verschwinden lassen? Macht es nicht auch Angst zu sehen, wenn das kleine Mädchen von nebenan, welches Ihnen gestern noch freudestrahlend mit ihren Sommersprossen und den blonden Locken entgegenkam, plötzlich ihr Strahlen verloren hat? Wenn der pubertierende Junge Ihrer befreundeten Arbeitskollegin mehr und mehr Zeit am Handy oder dem PC verbringt und gleichzeitig unerklärliche depressive als auch aggressive Züge zeigt?
Und ist Ihnen bewusst, wenn Sie ein Opfer kennen, Sie womöglich auch den oder die TäterIn kennen? Schließlich finden solche Taten zumeist durch Vertrauenspersonen statt. Wie sonst kann der Täter oder die Täterin sich des Schweigens seines Opfers sicher sein?
Umdenken durch Bewusstsein
Die Verunsicherung ist groß. Was kann man machen und was geschieht mit einem selbst, wenn man sich einmischt? Möchte man nicht eigentlich seine Ruhe haben und sollten sich da nicht andere drum kümmern? Und wieviel Einmischung ist überhaupt möglich, haben die Eltern doch das Sorgerecht? Zwickmühlen, die es Betroffenen schwer machen, wie beispielsweise das geteilte Sorgerecht bei Eltern, welches laut Gesetzgebung eingehalten werden muss, solange der Missbrauch und die Gewalt an dem Kind durch einen Elternteil noch nicht unstrittig bewiesen ist. Oder das „Therapieverbot“ für die betroffenen Kinder und auch Erwachsenen, da die Aussage für den unter Umständen noch in weiter Ferne liegenden Prozess unverfälscht sein sollte. Missstände, die vor allem die Aufarbeitung für den Betroffenen nicht nur verzögern, sondern dadurch auch nachhaltig erschweren. Gerade bei wehrlosen und abhängigen Kindern kann dies zusätzliche Schädigungen erzeugen.
Verdrängung über die Krise hinaus vergiftet einen Menschen und macht ihn und damit die Gesellschaft krank
Der Verdrängungsmechanismus eines Menschen, der ihm sein Überleben sicherstellen soll und ein Glück ist, wird aus einem einzigen Grund aktiviert: aus dem psychischen Notfall heraus! Es ist eine Form der Kompensation und eine vorübergehende Lösung, bis zur Auflösung der Krise. Wird nun dieser von der Seele zum Schutz abgespaltene Konflikt darüber hinaus weiterhin verdrängt, implodiert dieser Mensch, indem sich körperliche, psychische und geistige Symptome ausbreiten. Dies geschieht nun in einer unaufhaltsamen Eigendynamik, ähnlich einem Virus, der einen Wirt zum Überleben und zur Weiterentwicklung benötigt, der über den Menschen unterschwellig, bis zum Sichtbarwerden der Symptome und Schädigungen, herrscht. Dieser Vergleich beschreibt die unterdrückte Gefühlswelt des Unaushaltbaren, die nicht bewusst, aktiv und kontrolliert im gesunden Ventil einer Therapie oder ähnlichem ausgedrückt werden kann und nun den Menschen nach dem Brechen der inneren Grenzen und Dämme von innen überflutet, „vergiftet“ und krank macht. Es ist der Zustand der Dekompensation.
Der bewusste Weg durch die „Hölle“ schmerzt, ermöglicht jedoch Kontrolle, wohingegen der unbewusste, verdrängte Weg unkontrolliert in der Haltlosigkeit und im Chaos mit weitaus drastischeren Folgen mündet.
In den Zeiten der Coronakrise ist es uns Menschen als soziale Wesen schwer gefallen uns vor einer Übertragung des Virus durch soziale Distanz zu schützen. Es wurden drastische Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen und eine Ausgangssperre samt Katastrophenalarm ergriffen, um die Menschheit vor dem Tod durch die Infektion zu beschützen. Es war und ist weiterhin ein sehr stark umstrittener Einschnitt der Regierung in die persönliche Freiheit der Menschen und sollte Naivität und Ignoranz entgegenwirken.
Da drängt sich die Frage auf, warum im Thema Kinderschutz und familiäre sexualisierte Gewalt im Verhältnis so wenig unternommen wird, wenn es doch in diesem Feld bereits Langzeiterfahrungen gibt.
Was man nicht sieht, das gibt es nicht!
Dies alles erinnert doch sehr an so viele andere Probleme, die die Gesellschaft gerne durch ihre kollektive und gleichsam fatal endende Verdrängung selbstverantwortlich, bis zur Lebensgefährdung auf die Spitze treibt. Was der Mensch nicht sieht, gibt es nicht! – So einfach scheint in vielen Lebensbereichen die Einstellung der Masse zu sein. Und so auch im Thema Klimawandel, Flüchtlingskrise und auch in einem ebenso globalen Thema wie der sexualisierten Gewalt innerhalb der Familie und anschließender Netzwerke der Prostitution, Pornografie sowie im Bereich Kinder- und Menschenhandel. Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft und die Ursachenbekämpfung bei einer Pandemie liegt im Aufspüren des ersten Erkrankten, dem Patienten Nummer 1, um die weitere Verbreitung beeinflussen und im besten Fall verhindern zu können. Die Lösung liegt also im Finden des Ursprungs. Das heißt, für den Kontext familiäre sexualisierte Gewalt, in dem häufig Generationstraumata zu beobachten sind, ist es von ebenso großer Wichtigkeit, die Übertragung des „Virus der Gewalt und des Inzestes“ vom TäterIn auf das Opfer einzudämmen, indem nicht nur die Ursache der Folgeerkrankungen und Verhaltensmuster anerkannt und bekämpft wird, sondern dann auch der Entstehung weiterer TäterInnen entgegengewirkt werden kann.
Laut einer Umfrage können sich viele Menschen vorstellen, dass es familiäre sexualisierte Gewalt, also inzestuöse Gewalt, gibt. Bemerkenswert dabei ist, dass sich ebenso viele dies nicht innerhalb der eigenen Familie vorstellen. Dies bestätigt die kollektive Verdrängung in diesem Bereich und bestätigt unser Bestreben nach einer gesunden menschlichen Lebensweise. Jedoch geben wir uns damit einem Luxus hin, den Opfer, die jetzt gerade in diesem Moment von ihrem eigenen Vater oder der eigenen Mutter vergewaltigt werden, oder Kinder, die prostituiert oder im Internet verkauft werden, nicht haben und nie haben werden.
Führen wir uns vor Augen, für welche Abgründe die, die es tagtäglich erleben müssen - also die Opfer - Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die vielleicht nichts anderes kennen und für die es Normalität ist - sich zwangsläufig öffnen müssen, sind wir, denke ich, als soziale Wesen und im Sinne der Menschlichkeit gezwungen, uns zu stellen. Um den Betroffenen den Glauben an die Menschheit so gut wie möglich zurück zugeben, ist es wichtig ihnen beim Tragen ihrer Last zu helfen, die Welt und ihre Normalität durch ihre Augen zu sehen und zu spüren, was es bedeutet inzestuöse Gewalt zu erleben, was es mit einem macht und welch unvorstellbar fatale Wege TäterInnen möglicherweise gehen, wenn sie ihr Kind sogar prostituieren, foltern und auf grausamste Weise quälen und demütigen oder auch Bildmaterial über die Taten verkaufen.
Zu hart?
Ja, das ist es, aber es ist die Realität der Opfer, solange sie leben. Die wichtige Aufarbeitung, um den häufig generationsbedingten familiären Teufelskreis des Inzestvirus zu unterbrechen, schafft es nicht das verständliche Bedürfnis der Betroffenen, die Taten ungeschehen zu machen, zu stillen. Sie tragen mit ihrem Weg, sich dem Erlebten zu stellen, um sich ein Leben danach in Selbstbestimmung und Freiheit aufzubauen, dazu bei, die Welt besser zu machen, indem sie etwas verändern, was seit Menschenbestehen unser Leben und unsere Welt beeinflusst und krank macht. Jedoch können sie nicht allein die Welt retten, um in anderen Familien, an anderen Orten in der Welt Kinder vor ihren gewalttätigen Eltern zu schützen. Der „Impfstoff“ für die Welt muss mit wachsendem Bewusstsein und der konsequenten Bereitschaft gegen die über jahrzehnte- und jahrhundertelange Vorherrschaft der Täterwelt in all ihren Facetten und komplexen Auswirkungen, insbesondere auf der untersten Ebene der sexualisierten Gewalt gegen die eigenen Kinder, weitergegeben werden.
Wie sind wir nur an diesem Punkt gelandet?
Oder sollte die Frage eher lauten: Sind wir als Mensch doch noch nicht so weit, wie wir oftmals glauben, und es gibt viel mehr zu tun und zu lernen für alle Beteiligten?
Jeder von uns ist betroffen, ob direkt oder indirekt, und wir alle sind Teil dieser Welt. Durch Corona haben wir gelernt: Die Bedrohung durch einen Mikroorganismus, einen Virus, der für unser bloßes Auge unsichtbar ist, kann alles andere, was zuvor noch lebenswichtig war, jegliche Form von Kompensation, Konsum und vergleichbaren, anderen Banalitäten auf den Kopf stellen. Die Krisenzeit hatte einschneidende Folgen: Die Welt stand still. Insbesondere für Opfer von häuslicher Gewalt war die Zeit nicht nur zusätzlich belastend, sondern auch lebensgefährlich.
Der Mensch und das Menschsein
Wir wurden auf das Wesentliche, unser Leben selbst zurückgeworfen, mit der Herausforderung, uns selbst als Mensch und im Menschsein wiederzufinden. Ein Virus zeigte uns, wie verletzlich und machtlos wir sein können, und forderte unsere Wissenschaft auf, einen neuen Impfstoff zu entwickeln und in kürzester Zeit über sich hinauszuwachsen. Wir waren gefordert, Dinge möglich werden zu lassen, die zuvor unmöglich schienen und waren.
Fragen wie: „Was geschieht mit uns danach?“ „Werden wir nach dem Lockdown, der Abstinenz und dem Rückzug, dem wirtschaftlichen Erliegen so weitermachen wie bisher oder haben wir dazugelernt?“, beschäftigten uns in dieser außergewöhnlich einschneidenden Zeit.
Diese Situation zeigte uns aber auch, was in uns am stärksten ist: unser Überlebenswille, die Kraft, die uns zu Taten befähigt, die eventuell unentdeckt geblieben wären, wenn uns diese Krise nicht derart unter Druck gesetzt hätte. Aber natürlich kann dieses Bewusstsein, welches wir auch auf andere Krisensituationen umlegen können, uns nicht über alles hinwegtrösten und sichtbare Narben und Einschnitte werden natürlich bleiben. Die Erkenntnis unserer Stärke und ungeahnter Fähigkeiten, die darin liegt, kann jedoch für die persönliche Verarbeitung und Weiterentwicklung von großer Bedeutung sein.
Unter Druck zur Höchstform?
Unter den Edelsteinen gilt der Diamant als der Erlesenste, da er unter dem größten Druck zu dem edelsten aller Edelsteine wird. So ist es sicher auch bei uns Menschen, denn in Krisen zeigt sich der wahre Charakter und es treten die Charaktereigenschaften zu Tage, die uns im Wesen wirklich ausmachen und zu denen wir berufen sind. Eine uns alle betreffende Krise wird in einem Teil der Menschheit das Beste und im anderen Teil das Schlechteste hervorbringen. Je nach Prägung, Erfahrung, sozialem Umfeld und Persönlichkeit und anderen Faktoren wird ein Mensch sich in Stresssituationen verhalten. So lassen sich die Unterschiede zwischen uns Menschen erklären und die Frage beantworten, warum es auch schwierig werden kann, an einem Strang zu ziehen und es zur Spaltung kommt.
Die Evolution und Transformation
Die menschliche Evolution unterliegt seit Jahrtausenden unterschiedlichsten Herausforderungen und der Mensch bekommt seit jeher seine Grenzen aufgezeigt, um sich weiterzuentwickeln. Eine Entwicklung, die auch im Bereich der sexualisierten Gewalt gut zu beobachten ist, wenn wir uns beispielsweise den Weg der Emanzipation der Frau, ihrer Rechte, der „#metoo Kampagne“ und der stetig wachsenden Sichtbarkeit von Überlebenden und den verschiedenen Missbrauchsskandalen, die in die Öffentlichkeit getragen werden, ansehen.
So geschieht Evolution nicht nur physisch, indem wir den aufrechten Gang und andere kognitive und motorische Fähigkeiten weiter ausgebildet haben, nein, dies geschieht auch auf psychischer und damit auf feinstofflicherer Ebene. Sie erfordert ein neues Bewusstsein, eine neue Sensibilität, eine Öffnung für uns selbst und für unsere Mitmenschen und das Unrecht, was auf dieser Welt zu Tage tritt. Es ist vergleichbar mit einer gesellschaftlichen und nur folgerichtigen Aufarbeitung der leidvollen Auswirkungen, die aus bisher verdrängten und unbearbeiteten Gesellschaftstraumatisierungen entstanden sind. Wir unterliegen also alle einer Lebensgesetzmäßigkeit, die uns zeigt: wie im Kleinen, so im Großen. All das dient uns den nötigen Rahmen zu geben, um uns persönlich und sozial zum Erhalt und Wohle der Menschheit weiterzuentwickeln.
Öffnung und Sensibilität, die wir aus vergangenen Tagen als Schwäche in uns abgespeichert haben, fordern uns immer wieder auf unsere Stärke in genau dieser besonderen Fähigkeit der Empathie, Menschlichkeit und Güte zu sehen. Werden die bestehenden psychologischen Grenzen, die sich auf unserem momentanen Entwicklungsstand aufgebaut haben, in uns erreicht, erfordert dies Geduld, Tiefsinn und Weitblick, um zu lernen. Wir lernen aus gemachten und dogmatisch verhafteten Erfahrungen, um sie zu transformieren und neu zu interpretieren. Wir bewegen uns in ein Umdenken und damit in unserer Neugier und Lebenslust neue Erfahrungen zu machen, damit weiterentwickelte Gefühlsverknüpfungen und Selbstverständlichkeiten zu wieder neuen Ufern führen. Leben ist Bewegung, Wandel und Weiterentwicklung.
Es entstehen neue, der moderneren Zeit angepasste Denkansätze, Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen, durch die immer wiederkehrende Neuinterpretation der ursprünglichen Lebensgesetzmäßigkeiten, durch die wir uns als Menschen immer weiter neu erfinden und Innovationen auf allen Ebenen erschaffen können.
In Zeiten von Unsicherheiten ist es oft der Blick zurück zum Ursprung, der uns die Orientierung, Stabilität und Sicherheit gibt, um uns in unserem Sein neu auszurichten und wenn nötig zu korrigieren.
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