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Blog Post

Was hätte Schutz als Kind bedeutet?

Hund mit Mädchen
Hund mit Mädchen

Eine Frage, die immer wieder an Überlebende gestellt wird.


Was, wenn jemand hingesehen hätte?

Was, wenn Täter nicht geschützt worden wären?

Was, wenn der Körper ernst genommen worden wäre,

als er längst um Hilfe schrie?


Diese Fragen sind unbequem. Aber sie sind notwendig.

Sie richten sich nicht nur an ein Einzelschicksal, sondern an ein ganzes System – ein System, das zu oft Täter schützt und Betroffene zum Schweigen zwingt.



Familiäre sexualisierte Gewalt oder auch Inzest ist kein Einzelfall – es ist ein Tatort in einem organisierten System


Kinder, die in einem Alltag mit Inzest überleben, tragen oft über Jahre hinweg das Unvorstellbare mit sich. Gewalt ist Normalität und Bindung ist Gewalt. Sie sind stärker, als viele Erwachsene es je sein mussten – nicht, weil sie das wollten, sondern weil sie mussten. Zwangsläufig entwickeln sie unzählige und komplexe Überlebensstrategien, die ihr Verhalten oder auch ihre Sprache unklar erscheinen lassen. Schließlich tragen sie den natürlichen Drang in sich die Familie zu schützen, die ihnen im Tatort Familie nun auch als "Aufgabe" gegeben wird: Verraten sie die Täter, erfahren sie weitere Gewalt und Drohungen, wie z.B. ihr Zuhause zu verlieren. Natürliche Instinkte, die Grundbedürfnisse und kindlichen Ängste, sowie der Wunsch eine heile Familie zu haben, werden manipulativ und mit Gewalt von den Tätern zu ihrem Schutz ausgenutzt.

Wer sich weigert hinzusehen, weil es „zu schlimm“ sei, macht sich mitschuldig. Denn Kinder, die sexualisierte Gewalt in der Familie erleben, brauchen genau das Gegenteil: den Mut der Erwachsenen, das Unsagbare auszuhalten, sowie die Fähigkeit Täterstrategien, Traumafolgen und nonverbale Hilferufe zu erkennen.



Der Körper erinnert sich – auch ohne Worte

Wenn ein Kind schweigt, sich scheinbar normal oder gar glücklich verhält, bedeutet das nicht, dass nichts passiert ist. Neben den oft früh entwickelten und auch von den Tätern erzwungenen schauspielerischen Fähigkeiten, entwickeln yiele Betroffene körperliche Symptome – Schlafstörungen, Essstörungen, chronische Schmerzen, Autoimmunerkrankungen, Süchte, Depressionen oder andere körperlich manifestierte Erkrankungen. Der Körper spricht, wenn Worte fehlen - und dies umso mehr, wenn der traumatisch bedingte Druck über die Jahre und Jahrzehnte nicht verarbeitet werden konnte und steigt.

Psychosomatische Reaktionen wie z. B. Astmaanfälle, Dissoziationen oder Panikattacken sind keine „psychischen Auffälligkeiten“, sondern können direkte Spuren von Gewalt sein. Auch eine körperliche Erkrankung die sich durch stetige Gewalt, wie chronisches Sodbrennen bis hin zum Magengeschwür entwicklt hat, deutet auf eine langfristige psychosomatische Entstehungsgeschichte hin. Dieses Beispiel zeigt wie viele Erkrankungen sich über unverarbeitete traumatische Erfahrungen von der Psyche auf den Körper ausdehnen können.


Unsere Forderung: Ärzte, Therapeuten, Lehrkräfte, Hebammen, Erzieher, Sozialarbeiter – alle, die mit Kindern, Jugendlichen, Menschen arbeiten, müssen lernen, Gewalt als mögliche Ursache mit zu denken. Auch müssen sie Fragen stellen und handeln dürfen - natürlich mit dem Blick, die Lage für den Menschen nicht zu gefährden oder ungerechtfertigt einzugreifen. Sie brauchen Screeninginstrumente, die traumasensibel und niedrigschwellig sind und sie befähigt die Lage einschätzen zu können.



Familie ist nicht per se ein sicherer Ort

Das Idealbild von Familie als Schutzraum darf nicht blind machen, so wie es auch nicht ohne Grund in Frage gestellt werden darf. Es ist jedoch wichtig unser Bewusstssein zu schärfen, dass Eltern nicht automatisch Vertrauenspersonen sein müssen – sie können Täter oder Täterinnen sein. Wenn wir als Mensch und Institutionen reflexhaft die Eltern als „beste Personen oder Experten für ihr Kind“ behandeln, werden Kinder in Gefahr übersehen. Doch nicht nur das, sie erleben es als weitere Isolation, ziehen sich noch weiter zurück und geraten mehr und mehr ins Schweigen. Die Täter - denn kein Täter oder keine Täterin kann sich in der Familie über Jahre allein schützen - bekommen sonst mit ihrer Aussage, dass niemand helfen wird, recht. Dies wirkt nicht nur retraumatisierend, sondern ist in vielerlei Hinsicht fatal.


Forderung: Jeder Verdacht auf Gewalt muss ernst genommen werden - immer. Auch wenn es schwer auszuhalten ist, auch wenn es Eltern betrifft - besonders dann.



Sprache der Kinder / Jugendlichen / Erwachsenen verstehen – nicht erwarten

Kinder sprechen nicht wie Erwachsene. Sie haben keine Worte für das, was passiert. Besonders dann nicht, wenn sie von klein auf in einem Umfeld leben, in dem Grenzen nie geachtet, Gefühle nie Raum hatten und Bindung zur Gewalt im Alltag wurde. Erwachsene dürfen nicht erwarten, dass Kinder oder auch langjährig traumatisierte Erwachsene ihre Geschichte „klar erzählen“ oder es "eindeutige Zeichen" gibt. Es ist für sie wichtig zu lernen, zwischen den Zeilen zu lesen, die vielfältigen Konflikte richtig zu deuten, die stummen Hilfeschreie wahrzunehmen und die Realität anzuerkennen - insbesondere die kindliche. Es kann dann von großer Bedeutung sein, dass Kind - oder auch den erwachsenen Menschen - über einen längeren Zeitraum zu begleiten und Räume der Begegnung zu schaffen, um Vertrauen aufzubauen. All das ohne den vermeintlichen Täter oder die Täterin aufmerksam zu machen, damit der Mensch sich maximal sicher fühlen kann. Weiter braucht es entsprechende Programme, um Schutz zu bieten und den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu zeigen, es gibt Hilfe und für die festgefahrenen oder als unüberwindbar wahrgenommenen Probleme unkomplizierte Lösungen. Nicht zu vergessen: es gibt kein typisches Opfer, so wie es keinen typischen Täter oder typische Täterin gibt. Betroffene können hochfunktional sein, eine extrem gute berufliche und gesellschaftliche Stellung haben. Auch auf diesen Bereich haben die familiären Prägungen Einfluss, wie mit Trauma umgegangen wird. So wird das Kind einer depressiven Mutter eine verstärkte Neigung ebenfalls depressiv zu werden in sich tragen, so wie ein Kind einer akademisch gebildeten Familie dies in sich trägt. Hinzu kommen die Erwartungen, die die Familie an ihr Kind hat und natürlich die Persönlichkeit des Kindes. Aus dieser Kombination werden sich die Kompensationsstrategien und der Umgang mit der erlebten Gewalt ausbilden, so dass es unmöglich ist ein pauschalisiertes Bild von einem Opfer oder auch von einem Täter oder einer Täterin zu zeichnen.



Der Preis der Untätigkeit ist hoch – für alle

Jede Gewalt, die nicht erkannt oder nicht verhindert wird, hinterlässt Wunden: in der Psyche, im Nervensystem, im Gedankengut und Verhalten, im Körper. Diese Wunden wirken oft lebenslang.

Viele Überlebende erleben Arbeitsunfähigkeit, Suizidgedanken, chronische Krankheiten – oder fühlen sich so entwurzelt, dass sie sich selbst verlieren. Auch gesellschaftlich ist das ein Preis, der sich nicht wegdiskutieren lässt und schwere Folgen haben kann. Denn oft tragen Täter und Täterinnen selbst das Opfer in sich, so dass ein Mensch, dem es nicht möglich ist sein Trauma aufzuarbeiten ein erhöhtes Risiko in sich trägt selbst gewaltbereit zu sein. Wird der Schaden nicht begrenzt, ufert er weiter aus: im ersten Schritt über die Psyche, dann über den Körper und wird sich schließlich im Verstand verankern und die Persönlichkeit beeinflussen.


Forderung: Wir brauchen ein Gesundheits-, Hilfe- und Rechtssystem, das den Schutz und die Stabilisierung der Betroffenen zur Priorität macht – unabhängig vom Ausgang eines Strafverfahrens.

Therapie muss sofort möglich sein – ohne bürokratische Hürden. Ohne die Erwartung, dass sich Betroffene erst „beweisen“ müssen, indem sie z.B. wie in jahrelangen Verfahren einem Therapieverbot ausgesetzt sind und in dem zu guter Letzt eine Verurteilung in den meisten Fällen ungewiss ist. Diese Zeit ist im höchsten Maße belastend für Opfer, insbesondere für Kinder, die sich in der Entwicklung befinden und im laufenden Verfahren mit niemanden über das Tatgeschehen reden dürfen, damit die Aussage vor Gericht "unverfälscht" bleibt. Einerseits nachvollziehbar, jedoch steht dies in keinem Verhältnis zu den Schäden, der erreichten Täterloyalität, da diese Zeit haben weiteren Druck - nun auch noch mittels der Institutionen - auf ihre Opfer auszuüben. Dies kann und darf nicht im Sinne eines funktionierenden Rechtssystems sein, welches vor allem nach ethischen und moralischen Gesetzen agieren sollte.



Was wir brauchen – jetzt:


  • Traumasensibles Vorgehen in allen Berufsgruppen mit Kinderschutzkontakt, sowie im Kontakt zu Gewaltopfern allgemein

  • Familie kann auch Tatort sein, selbst wenn bisher nichts bekannt geworden ist

  • Screenings und Verdachtsabklärung

  • psychosomatischen Beschwerden ernst nehmen und Gewalt- und Traumaerfahrung bewusst mitdenken

  • Ein interdisziplinäres Helfernetz aus Medizin, Psychotherapie, Justiz, Schule, Jugendhilfe

  • sofortige Therapie und Unterstützung losgelöst vom Strafverfahren

  • Gesellschaftliche Anerkennung, dass sexualisierte Gewalt in Familien existiert – und aufgedeckt werden muss

  • Konsequenzen für Täter und Täterinnen – nicht für die Betroffenen

  • Opferschutz und vermeintliche Täter und Täterinnen genauer durch Fachleute beleuchten

  • gleiche Rechte im Strafverfahren für die Opfer, wie für Täter und Täterinnen




Schutz ist keine Theorie – er muss gelebte Praxis sein


„Was hätte Schutz als Kind bedeutet?“ – das ist keine rhetorische Frage. Sie ist real, konkret, lebensentscheidend. Für jedes Kind, das (noch) nicht sprechen kann - sowie für jeden Menschen, der keine Sprache für das Unsagbare hat oder gefangen in falschen Schuld- und Schamgefühlen ist. Für jeden Überlebenden, der erst Jahre später Worte findet. Für eine Gesellschaft, die sich entscheiden muss:

Für das Wegschauen – oder für echten Schutz.



Kinderschutz darf nicht an der Bequemlichkeit der Erwachsenen scheitern.

Wenn dich dieser Beitrag bewegt hat und du mehr darüber erfahren willst, wie wir gemeinsam für Aufarbeitung, Schutz und Sichtbarkeit kämpfen können, begleite uns auf unserem Weg.

Wir schreiben aus der Perspektive der Überlebenden, sind Autoren und Erfahrungsexperten– für Aufklärung, Heilung und Veränderung. Teile den Beitrag, wenn er dir gefallen hat und du andere Betroffene, Fachleute und Interesseirte damit erreichen möchtest.





 
 
 

1 Yorum


Bea
Bea
20 Haz

Sehr guter Beitrag und volle Unterstützung!

Besonders wichtig finde ich den Hinweis, dass es nicht das "typische Opfer" gibt, denn es herrscht immernoch oft die Vorstellung, betroffene Kinder wären besonders auffällig (gewalttätig oder enorm schüchtern und zurückhaltend).

Dabei ist das nicht immer der Fall, besonders, wenn der Missbrauch schon sehr früh beginnt und das Kind damit aufwächst, es folglich "normal" für. es ist. Meistens versuchen sie um alles in der Welt bloß nicht aufzufallen, nicht aus der Reihe zu tanzen, alles ordentlich und richtig zu machen. Zum einen aus Angst vor noch mehr Gewalt und zum anderen, um die Familie zu schützen.

Genau das macht es für nichtbetroffene und unwissende Erwachsene so schwierig, die Gefahr zu erkennen und entsprechend zu…

Beğen
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