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DARF MAN ALS SELBSTBETROFFENER ÖFFENTLICH STARK UND STOLZ SEIN ES GESCHAFFT ZU HABEN?

Aktualisiert: 15. Aug.

Statt Lob und Anerkennung oder Neugierde nach: wie hast du das geschafft? - Zweifel, Ungläubigkeit, ein Gefühl von Mitleid und "Gutmenschentum" bis hin zu Ekel.





Ich kann oft nur mit Erstaunen, Empörung und Wut reagieren, wenn ein Opfer sexuellen Missbrauchs und Gewalt - ein Mensch, der vielleicht jahre- und jahrzehntelang vergewaltigt, gefoltert, geschändet und gedemütigt wurde, physisch und psychisch durch die Hölle ging und dies in der Regel durch die eigene Familie - nach und während seiner Aufarbeitung von Außenstehenden erneut zum Opfer degradiert, nicht ernst genommen und entwürdigt wird. 

Berichtet eine Frau darüber, wie der eigene Vater sie zu seiner „Geliebten“ konditioniert und geformt hat, sprechen Frauen darüber, wie sie sich bei der Vergewaltigung und den Schlägen ihres Partners nicht gewehrt haben, Männer, wie sie durch die Mutter, die Oma oder die Tante geschändet wurden, dies sich in ihrem Leben auf unterschiedlichste Weise zwangsläufig immer wieder wiederholte und die heute ein mit Scham und Schuld durchtränktes Leben führen, unter schlimmsten Albträumen, Flashbacks, körperlichen Symptomen und autoaggressivem Verhalten leiden, dann wird auf dieses Outing nicht selten mit Überforderung, Ungläubigkeit, Abscheu oder sogar Ekel reagiert. Ablehnung und ein inneres Naserümpfen werden getarnt durch falsches Mitleid und Mitgefühl, was die betroffenen Menschen erneut diskriminiert und entwürdigt.

Natürlich sucht ein Betroffener nach einer gewissen Aufmerksamkeit, da er sie zu Zeiten seiner Not nicht hatte, aber dringend gebraucht hätte.

Hier geht es jedoch nicht um ein Aufmerksamkeitsdefizit oder um das Ego, sondern um Akzeptanz, Teilhabe, Respekt und Würde.


Wenn diese derart leidgeprüften und durch ihr Schicksal in Kraft und Stärke gestählten Persönlichkeiten neben oder nach der Aufarbeitung ihrem Leben einen Sinn geben möchten, sich fortbilden und anderen Notleidenden ebenso helfen möchten, werden sie zumeist in ihrer Kompetenz angezweifelt. Wer, wenn nicht sie, verfügt über eine kompetentere Expertise aus Erfahrung und dem tagtäglichen Überlebenskampf?

GutachterInnen, die diese Chance auf Perspektive und der Weiterentwicklung mit dem Wort Kontraindikation vom Tisch fegen. In Betroffenen eben nicht die Fähigkeiten und Stärken sehen, sondern sich auf die Symptomatik in der Krise konzentrieren, die Menschen in erlernte Schubladen stecken und ihnen die Hoffnung, den Glauben an sich und ihr Leben nehmen und sie Kraft ihrer Autorität auf das Abstellgleis schieben. 

Dies erinnert doch sehr an den Ausspruch: aus den Augen aus dem Sinn.


Womit wir auch wieder bei dem Thema der gesellschaftlichen Verdrängung sind und in dem Luxus der Nichtbetroffenen, die sich das Recht herausnehmen wegzusehen und sich ein eher täterorientiertes Urteil bilden - weil sie es nicht ertragen können.

Wer hat sich an dieser Stelle einmal vor Augen geführt, dass das Kind, welches dieser nun vor ihm sitzende Mensch einst war, nicht wegsehen oder weglaufen konnte und im Grunde erst ab achtzehn die freie Möglichkeit gehabt hätte aus dem Kreis der Familie auszusteigen, vorausgesetzt die Kraft ist dann noch da.

Durch das Leben selbst wird ein betroffener Mensch sexuellen Missbrauchs und Gewalt zwangsläufig mit seinem Schicksal und der dazugehörigen Gefühlswelt konfrontiert. Ein Entziehen ist nicht möglich. An dieser Stelle spätestens wird klar, wer von beiden Seiten nun der „Stärkere“ ist, lässt man sich in seiner Verzweiflung auf einen Vergleich ein. 

Wie soll nun also ein betroffener Mensch dieses Schicksals, welches immer noch ein Tabu innerhalb der Gesellschaft ist, „richtig“ auftreten?  Ist er zu leidend: spielt er die „Opferkarte“ aus - Ist er zu stark: wird er angezweifelt.

Wie hat ein „Opfer von sexualisierter Gewalt“ oder ein „Inzestopfer“ auszusehen und sich zu geben, um im Leben seinen Platz zu finden?

Die Zweifel gehen in Richtung Lüge, Suggestion bis hin zu „Die oder der wollte es doch so!“  Aussagen der eigenen Mutter ihrer Tochter gegenüber wie: „Dann hätte sie nicht die Beine breit machen sollen, dann wäre das auch nicht passiert! Nun braucht sie auch nicht heulen, dass er sie vergewaltigt hat!“, sollten längst der Vergangenheit angehören, sind jedoch auch heute noch leider keine Seltenheit. Ganz im Gegenteil, je mehr dieses Tabu öffentlich wird, um so stärker wird es auf unterschiedlichste Weise in allen Bereichen bekämpft.


Als Inzestopfer leben viele bis heute noch oft mit dem Stempel und dem Schuld- und Schamgefühl, den eigenen Vater oder die eigene Mutter „verführt“ zu haben. Dass TäterInnen dies ihrem Kind mit einem Gefühl und der Konditionierung, wie: „Das machen alle Papis und Mamis mit ihren Kindern so!“ als das Normalste der Welt anerziehen, ist einer der Hauptgründe dafür und die Betroffenen werden Zeit ihres Lebens diese Gefühle in sich tragen, weil sie gar keine andere Wahl haben, solange diese tiefe Prägung des Unterbewusstseins nicht aufgelöst werden kann. Sie tragen sie wie eine zweite Haut, die nur mit professioneller Hilfe abgetragen werden kann. 

Es sind Haltungen, die nicht immer ihre Verbalisierung finden, sich jedoch in Verhaltensweisen, Vorverurteilung und Alltagsituationen deutlich zeigen.

 

Ein Beispiel aus der Praxis zeigt eine Situation aus unserer Arbeit: 

Ich begleitete eine Klientin zu ihrer Verhandlung bezüglich der Bewilligung von weiteren Therapiegeldern. Ihr Auftreten war sensibel, offen, stark, authentisch und sie hat bereits einen langen Weg der Aufarbeitung hinter sich. Sie erlebte Dinge, die selbst unter Betroffenen als ein Härtefall beschrieben werden würden. Sie kämpfte taff, erwachsen und aus voller Seele, für sich als Mensch und ihre Rechte.

Sie machte eindringlich klar, was Sie alles dafür tut, um aus dem (Gefühls-) Teufelskreis des Missbrauchs und der Gewalt herauszukommen, dass sie all ihre Ersparnisse für die Therapie verwendet hat, einen Kredit aufgenommen hat, keinerlei Unterstützung seitens ihrer „Familie“ hat, da diese in diesem Fall der Täterkreis war und ist. Sie wurde als Kind prostituiert, sie wurde zu rituellen Opferungen und Grabschändungen mit Nekrophilie gezwungen. Selbst als Erwachsene wurde nicht von ihr abgelassen, ein Ausstieg schien unmöglich und es grenzt an ein Wunder, dass sie den Absprung mit ihrem Sohn geschafft hat. All das hat sie überlebt, all das hat sie nicht mit sich und der Menschheit brechen lassen und sie erhielt sich die Hoffnung, den Glauben an eine bessere Welt und an den guten Kern der Menschen. Sie kämpfte. Sie zog aus ihrem Erleben Stärke, erlebte Ermunterung sich und ihr Schicksal zur Berufung zu machen, so dass sie sich heute selbst für Betroffene einsetzt und ihre Erfahrungen weitergibt.

Niemand im Saal kam umhin zu sehen, dass die bisher geleistete therapeutische Arbeit ihr sehr geholfen hat. Es wurde über die weitere Verwendung der Gelder gesprochen und sie wünschte sich ein kleines Auto - nichts Besonderes, nur um mobil zu sein, ein Stück Lebensqualität zu haben in ihrem Hartz-IV-Leben mit Kleidung aus dem Second-hand-Laden und Essen von der Tafel. Um mit ihrem Sohn auch mal einen Ausflug machen zu können, die schweren Einkäufe mit ihrem durch den Missbrauch geschädigten Rücken nicht mehr tragen zu müssen und auch, um sich sicherer unterwegs zu fühlen, da ihr die Menschenmassen in Bus und U-Bahn Angst machen. Ängste, Bedrohung und Verfolgung gehören wie Atmen zu ihrem Leben. 

Der Richter wies in einem vermeintlich helfenden und doch herablassenden Ton darauf hin, dass es „ja auch sowas wie ein Fahrrad gäbe“. Es war empörend und beschämend. 

Die weiteren Gelder wurden ihr, da ihre Therapeutin „nur“ Heilpraktikerin war, nicht bewilligt mit den abschließenden Worten vom Richter: „Also das, was sie hier für sich geschafft haben, ist doch auf jeden Fall ein riesiger Gewinn für sie und sie haben doch hier heute so oder so gewonnen.“ Nur, dass es nicht um dieses Siegen ging...

An diesem Beispiel wird einmal mehr deutlich, wie ein Mensch, der sich aus den Fängen der Täter befreien konnte, sich fühlt, wenn er auf diese Weise erneut zum Opfer degradiert und diskriminiert wird.

Mitgefühl und Mitleid werden geradezu zur Gnade und es vermischt sich der fahle, doch so bekannte Beigeschmack der Unterdrückung und Demütigung mit dem lang ersehnten Erfolgserlebnis, die an einem begangenen Schändungen öffentlich auszusprechen, sich aufrecht zu sich zu stellen und um sein Recht zu kämpfen.

Die sogenannten „Opfer“ kämpfen - wenn sie es überhaupt schaffen - den doppelten, dreifachen oder besser gesagt, den vierfachen Kampf. Den ersten oft bereits als Kind und im Entwicklungsalter durch ihr Überleben in der von TäterInnen geschaffenen Hölle, den zweiten aus dem Teufelskreis der Gewalt / der TäterInnen heraus. Den dritten und nicht minder harten, durch die Aufarbeitung der Gefühle, die im ersten oft jahrelangen Überlebenskampf nicht zugelassen werden konnten. 

Ein vierter Kriegsschauplatz eröffnet sich in der Behauptung seiner selbst im Alltag, heißt also nicht erneut Opfer zu werden oder sogar selbst zum TäterIn zu mutieren. Es geht also um die Behauptung im Menschsein, aller bleibenden Traumafolgestörungen zum Trotz.

Ein Grund - wenn nicht der Grund überhaupt - stolz, im Sinne von aufrecht und gerade zu sein, oder?

Mache dir deine Stärke bewusst, bleibe Mensch, bleibe weder Duckmäuser noch werde überheblich, aber lasst dich nicht mehr auf ein Abstellgleis stellen. Hole dir deine Würde zurück, nein, mache sie dir bewusst durch den tagtäglichen Kampf, den du genau aus dieser Kraft kämpfst – und das im schlimmsten Fall von klein auf!

Das Recht auf Leben ist selbstverständlich und sollte nicht mehr von Menschen abhängig sein, die nicht verstehen können, wer du bist und was du im Leben für dich geleistet hast. Auch ergibt sich aus diesem mehr als bemerkenswerten Lebensweg eine Aufgabe. Nämlich die, denen zu helfen und die Augen für die Realität zu öffnen, die noch größere Angst vor dem Thema haben - und das sind nicht nur Selbstbetroffene, wie wir gesehen haben.

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